Dienstag, 14. Oktober 2014

Frank Schätzing: Spannung im Nahen Osten

Frank Schätzing. Foto: Paul Schmitz
Auch wenn der Krieg gegen den IS momentan die Nachrichten beherrscht, vor Kurzem war es noch der Nahe Osten, wo sich die Ereignisse tagtäglich überschlagen haben. Es ist seit Jahren und bleibt wohl auch auf Jahre die explosivste Region der Welt. Und genau dort spielt der neue Roman von Frank Schätzing »Breaking News«, mit dem er jetzt auf große Live-Tournee geht. Unter anderem gastiert er in Stuttgart und Reutlingen. Ich sprach vor ein paar Wochen mit dem Autor über die Krise zwischen Israel und Palästinensern, warum Ariel Sharon der perfekte Darth Vader ist und welche Verantwortung wir alle tragen.

Herr Schätzing, mit welchem Gefühl schauen Sie zurzeit die Nachrichten aus dem Nahen Osten?
Mit einem Gefühl der Bestätigung. Leider. Weil die Eskalation vorherzusehen war und weitere folgen werden, solange man sich nicht den Ursachen widmet. Jahrzehnte fehlgeleiteter Entwicklung lassen sich nicht rückgängig machen, aber um die Dinge zum Besseren zu wenden, müssen beide Seiten akzeptieren, dass es überhaupt eine Fehlentwicklung gab.

Im Zusammenhang mit der Krise in Nahost werden immer mehr Israel-kritische Stimmen laut. Können Sie das nachvollziehen?
Das israelische Vorgehen fordert zivile Opfer, allerdings kann man Netanjahu nicht vorwerfen, sein Land gegen Raketenangriffe eines Nachbarlandes zu verteidigen. Vorwerfen muss man ihm, dass er praktisch nichts für den Frieden unternimmt. Damit nimmt seine Administration künftige Opfer mit Ansage in Kauf. Israel deswegen pauschal zu kritisieren, ist idiotisch. Ebenso, als wolle man Deutschland als Ganzes für seine faschistischen Minderheiten an den Pranger stellen oder die komplette USA mit ihren jeweiligen Präsidenten gleichsetzen. Jede undifferenzierte Kritik an einem Land, einem Volk, mündet in Rassismus, insofern ist Israel-Kritik ein gefährlicher Begriff. Man muss sich um Differenzierung bemühen. Ohne weiteres darf man konstatieren, dass die Regierung Netanjahu und Israels radikal-religiöse Rechte dem Land massiv schaden. Umgekehrt muss man die Hamas aufs Schärfste verurteilen, die zivile Opfer unter der eigenen Bevölkerung geradezu provoziert, indem sie ihre Raketenbasen in Wohnviertel verlegt. Das ist an zynischem Kalkül kaum zu toppen. Aber auch die Hamas steht nicht stellvertretend für alle Palästinenser. Fakt ist, Krieg an sich ist ein Verbrechen. Also begeht jede kriegsführende Partei unweigerlich Verbrechen.

Ihr aktueller Roman »Breaking News« spielt hauptsächlich in dieser Krisenregion. Sie haben viel dafür recherchiert, sind auch tief in die historischen Hintergründe eingetaucht. Wer trägt Ihrer Meinung nach die Hauptschuld an dem Konflikt?
Wenn Sie vor Ort sind, erledigt sich die Schuldfrage schnell. Es gibt nur Betroffene. Die Antworten finden sich in der Geschichte, und auch dort werden Sie keinen Erstschuldigen ausfindig machen können. Heute lädt im Einzelfall mal der, mal der mehr Schuld auf sich. Insbesondere junge Menschen sind Geiseln der Vergangenheit. Niemand im Nahen Osten hat darum gebeten, in einen solchen Schlamassel hineingeboren zu werden. Die Alten haben ihre Triumphe gefeiert und den Jungen einen Dauerkonflikt hinterlassen, den zu beenden andere Leute erfordert als Benjamin Netanjahu und Mahmud Abbas.

Haben Sie auf Ihren Reisen in Israel auch diesen gegenseitigen Hass zwischen Israelis und Palästinensern gespürt, der über viele Medien in den Westen getragen wird? Oder ist auch die Welt in Israel wie so oft nicht nur schwarz und weiß?
Ich habe eher Misstrauen gespürt. Die Radikalen beider Seiten versuchen den Hass zu schüren, klar, aber sie sind in der Minderheit. Das Problem ist, dass man einander nicht mehr traut. Spätestens seit Oslo, als ein Friedensplan ausgehandelt wurde, dessen Umsetzung beide Seiten unterlaufen haben, fürchtet man im Nahen Osten Vereinbarungen, die sich als Bumerang erweisen könnten. Ungeachtet dessen sind weit mehr Israelis und Palästinenser auf privater Ebene befreundet, als man sich das hier so vorstellt. Es gibt jede Menge Kooperativen, Geschäftskontakte ... mein Eindruck war, dass man sich in der Mentalität nicht sonderlich unterscheidet. Israelis und Araber könnten vom Naturell her prima miteinander auskommen.

Eine der wichtigsten Figuren in Ihrem Buch ist Ariel Sharon. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von seinem Tod in diesem Jahr erfuhren?
Dass ein guter Bekannter gestorben ist. Schräg, was? Aber sehen Sie, das ist die eigenartige Nebenwirkung, wenn man sich zwei Jahre lang so intensiv mit jemandem beschäftigt, alles über ihn liest, Menschen trifft, die ihn gekannt haben, Filmaufnahmen sieht, ins Private, in die früheste Kindheit vordringt. Während des Schreibens wunderte ich mich immer wieder, dass er das Koma überhaupt so lange überlebt hatte. Dann, wenige Wochen vor Veröffentlichung, dachte ich: Komm, Arik. Jetzt nicht schlapp machen. Die paar Wochen schaffst du auch noch. Da war so ein Gefühl der Vertrautheit. Als wäre man einen langen Weg zusammen gegangen.

Ariel Sharon hatte schon viele Rollen in seinem Leben bekleidet. Die eines Romanhelden war bis zu Ihrem Buch noch nicht dabei. Was hat Sie so sehr an dieser Person fasziniert?
Ihre Ambivalenz. Mich reizen kontroverse Charaktere, bei denen die Grenzen zwischen gut und böse verwischen. Scharon hat die Probleme der Region maßgeblich befördert, doch am Ende galt er als Hoffnungsträger. Jemand wie ich, der das Instrumentarium des Thrillers bedient, sucht im Grunde immer nach seinem Darth Vader, und Scharon ist dafür eine wahrhaft schillernde Besetzung.

Für die Einen ist Sharon ein Held, für andere ein rücksichtsloser Hardliner. Was ist er für Sie?
Beides und nichts davon. Ein Mensch ist mehr als die Summe seiner Beurteilungen. Scharon hat im nahen Osten einen gigantischen Fußabdruck hinterlassen. Viel Porzellan zerschlagen, aber auch große Anstrengungen zur Deeskalation unternommen. Wir vergessen oft, dass ausgerechnet er angesichts grauenvoller terroristischer Anschläge in Israel während der zweiten Intifada lange auf Zurückhaltung setzte. Angesichts solcher Blutbäder wie vor dem Dolphinarium in Tel Aviv nicht sofort Nablus und Ramallah auszuradieren, grenzte schon an übermenschliche Selbstbeherrschung. Wir vergessen auch, dass Yitzchak Rabin, wahrhaft eine Lichtgestalt im Friedensprozess, noch während der ersten Intifada als extremer Hardliner auftrat. In einer Region wie dem Nahen Osten, mit allen diesen Problem, schließen sich Lebensläufe ohne Brüche aus. Am Ende zählt nur, was man getan und was man unterlassen hat.

Als Deutscher muss man es sich heute in der Öffentlichkeit noch immer lieber ein Mal zu viel überlegen, ob man etwas Kritisches Richtung Israel sagt. Gab es im Vorfeld Bedenken von außen, ob ein Thriller, der im Nahen Osten spielt, auch tatsächlich so ein gute Idee ist?
Hätte es sie gegeben, hätten sie mich nicht interessiert. Wenn mir einer sagt, mach es nicht, mache ich es erst recht. Aber da kam nichts. Weil Breaking News nie als Vehikel für Israel-Kritik oder Araber-Schelte gedacht war, sondern zuallererst als unterhaltsame, rasante Achterbahnfahrt durch die explosivste Region der Welt. Zweitens als Blick von oben. Aus der Astronautenperspektive. Auf den Status quo, auf die Geschichte, ohne zu werten. Was die deutsche Position betrifft: Gäbe es eine Kollektivschuld über Generationen hinweg, müssten wir verstummen. Aber es gibt kein Tätervolk, nur Tätergenerationen. Die nach dem Krieg Geborenen tragen keine Schuld an den Nazi-Gräueln, Schuld ist nicht erblich. Dafür aber etwas anderes: Verantwortung! Nämlich die Verantwortung, alles Menschenmögliche zu tun, damit sich eine derartige Tragödie, ein solches Verbrechen, nie wiederholt. Diese Verantwortung haben wir geerbt und vererben sie weiter. Niemand kann sich davon freisprechen. Schuld macht stumm. Verantwortung erfordert, dass man sich äußert. Sich als gestaltende Kraft begreift.

Ganz simpel gefragt: Warum Nahost? Auf der Welt gibt es genügend Krisenherde.
Stimmt. Ich bin aber nicht der Krisenonkel. Keiner, dessen Konzept es wäre, den Finger in möglichst viele Wunden zu legen. Zuallererst interessieren mich Ideen, die gute Storys versprechen. Ich habe nicht den Ehrgeiz, als nächstes über die Ukraine zu schreiben. Genau genommen begann alles vor drei Jahren am Frühstückstisch, mit einer Diskussion über den Konflikt da unten. Ich sagte: Der letzte in Israel, dem ich eine langfristige Lösung zugetraut hätte, wäre Ariel Scharon gewesen, ausgerechnet Scharon – und dachte im selben Moment: Das haben die Ultraradikalen verhindert. Ich fand das als Verschwörungsidee klasse, es versprach einen packenden Politthriller mit aktuellen Bezügen.

Welche Gefühle möchten Sie beim Leser mit »Breaking News« auslösen? Denn letztendlich ist das Buch doch ein Thriller, der von seiner Spannung und Unterhaltung lebt und dabei doch den ernsten historischen Hintergrund nicht außer Acht lässt.

Treffend beschrieben. Genau das ist es. Ich verfolge beim Schreiben keine Absichten. Welche Gefühle ich damit auslöse, müssen Sie die Leser fragen.


>> Frank Schätzing ist am 3. November in der Stadthalle Reutlingen und am 8. November in der Liederhalle Stuttgart zu Gast<<

Mittwoch, 7. Mai 2014

Whisky, Wandern, Wissenswertes

Es gibt sie noch, die Geheimnisse und Überraschungen, die die Region zu bieten hat. Einige davon präsentiert die Tübingerin Angela V. Weis. Als Schwäbische Whisky-Botschafterin nimmt sie den ganzen Sommer über Interessierte mit auf den »Whisky-Walk« und verrät gemeinsam mit drei regionalen Brennmeistern allerhand Wissenswertes zum »flüssigen Gold«. Auch ich habe mich dem Tross angeschlossen und kam mit vielen neuen Erkenntnissen zurück.


Schottland? Ja, klar! Irland? Natürlich! USA? Selbstverständlich! Aber auch die Schwäbische Alb? Ja, auch sie gehört in diese Reihe, mehr als mancher denkt. Der gemeinsame Nenner mag erstaunen: Whisky. Noch erstaunlicher wird es, wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, dass praktisch bei uns vor der Haustür die »Whisky-Hauptstadt Deutschlands« beheimatet ist. Nirgendwo sonst außerhalb Schottlands gibt es drei Whisky-Brennereien an einem Ort außer in Owen, gesprochen »Auen«. Grund genug, auf eine ganz besondere Entdeckungsreise zu gehen.

Erfunden vom Tübinger Hans-Peter Schwarz geht der Whisky Walk 2014 in seine dritte Saison. Und das Interesse ist groß. Die meisten Termine sind komplett ausgebucht, Besucher kommen aus dem ganzen Bundesland, um das Biosphärengebiet Schwäbische Alb zu erkunden und den Schwäbischen Whisky für sich zu entdecken. So auch an diesem Samstagmittag. Treffpunkt ist der Bahnhof von Owen/Teck. Dort versammelt sich eine bunte Truppe von 25 interessierten Whisky-Kennern und denen, die es noch werden wollen. Angela V. Weis, Schwäbische Whisky-Botschafterin, zertifizierte Edelbrand-Sommelière und unsere Wander-Leiterin, verteilt an alle die »offizielle Schwäbischer-Whisky-Walk-Ausrüstung«, bestehend aus einer Tasche, einer Flasche Wasser, einem Schreibblock, Stift und – dem Wichtigsten – einem Whisky-Glas. Denn auf dieser Wanderung werden wir nicht nur viel über den Whisky erfahren, wir werden auch etliche davon probieren. Doch der Reihe nach...


Die erste Station ist nur 200 Meter von unserem Treffpunkt entfernt. Wer sich hier im Vorfeld Sorgen gemacht hat, er müsse stundenlang wandern – schließlich ist der Whisky-Walk laut Plan für circa knapp sechs Stunden veranschlagt – wird schnell erleichtert sein. Immanuel Gruel ist unser erster Gastgeber und führt uns sogleich in sein Reich. Er zeigt uns seine Brennerei, erklärt kurz, wie der Whisky gebrannt wird, beantwortet gerne die Fragen der interessierten Besucher, führt uns in sein Lager, wo den Teilnehmern sofort süßlicher Whisky-Geruch in die Nase steigt, und bittet uns letztendlich in seine heimelige Gaststube. Denn jetzt kommt das, warum die meisten hier sind: die Verkostung. Die Besucher nippen, riechen, kosten und diskutieren ihre Erfahrungen. Riecht es mehr nach Mandel oder nach Frucht? Zwetschge oder Banane? Am Tisch kommt es zu geselligen Gesprächen, die Stimmung wirkt sogleich gelöster. Und das wird sich im weiteren Verlauf fortsetzen. »Drei Whiskys in 20 Minuten – ihr seid nicht schlecht«, sagt mir der Gastgeber und ich denke nur daran, wie es mir nach dem neunten wohl gehen wird und wie ich dann noch heimkommen soll.



Jetzt schon vollgestopft mit Wissen und spannenden Eindrücken geht der Whisky-Walk weiter. Angela V. Weis führt uns an Streuobstwiesen und Obstplantagen vorbei, an Blumen- und Getreidefeldern. Garniert mit altertümlichen Sagen, unterhaltsamen Anekdoten und jeder Menge Interessantem zur Landschaft hält sie die Truppe bei Laune. So geht die kleine Wanderung entlang der »Blauen Mauer«, wie die Schwäbische Alb gerne gennant wird, zu den nächsten beiden Stationen. Zur Bellerhof-Brennerei von Thomas und Susanne Dannemann und – nur einen Steinwurf entfernt – zum Berghof Rabel. Auch dort wird verkostet und sich ausgetauscht, und natürlich jede Menge über Whisky erfahren. Was genau, das sollte am besten jeder selbst herausfinden. Sonst wäre schließlich die ganze Spannung dieser einmaligen Wanderung dahin. Nur eines kann ich hier verraten: Alle der neun probierten Whiskys waren außergewöhnlich – sogar für einen Laien wie mich.

Alle Informationen unter www.schwaebischer-whisky.com


Mittwoch, 26. Februar 2014

Die Seele einer Großstadt


Die Kunstformen Theater und HipHop, Graffiti und Tanz vereinen sich zu einem fesselnden Gesamtkonstrukt und lassen tief in die Seelen einer Großstadt blicken. Die Stuttgarter Regisseurin Christine Bossert inszeniert mit »Radio Noir« ein Stück, das mit seiner Thematik auf der einen Seite verstört, auf der anderen es aber schafft, Grenzen und Barrieren niederzureißen und ganz nebenbei geheime anarchistische Wünsche zu befeuern.

Sie ist verletzt. Sie ist wütend. Und sie lässt es raus. Sie ruft zur Gewalt und Anarchie auf, zu Sex und Selbstmord. Sie ist die selbstverstandene Stimme der Welt. Einer Welt, die sie zerstört sehen will. Sie ist Parthenope, die Night-Talkerin. Und wie ihre Namensvetterin aus der griechischen Mythologie will sie den Tod bringen... Albert Ostermaiers Theaterwerk »Radio Noir« ist kein Stoff, aus dem die Träume sind, höchstens Alpträume. Und doch wird für die Stuttgarter Regisseurin Christine Bossert damit ein Traum wahr. Im März bringt sie mit »Radio Noir« einen ihrer großen Träume auf die Bühne.
Im Jahr 1998 war die Uraufführung von Ostermaiers Bühnenstück und »seitdem liegt es auch bei mir auf dem Schreibtisch«, sagt die Regisseurin. Es ist einer dieser Texte, die man nicht vergisst, die sich zerstörerisch und unaufhaltsam ihren Weg ins Unterbewusstsein bahnen. Und irgendwann ausbrechen möchten. In Stuttgart bricht Parthenope, die Sirene der Nacht, am 20. März aus. »Es ist auf keinen Fall klassisches Theater, wo man sich hinsetzen und berieseln lassen kann«, sagt Bossert, die als Regisseurin und Schauspielerin an zahlreichen Theaterhäusern zwischen Berlin und Stuttgart gearbeitet hat. Vielmehr taucht man ein in eine urbane Untergrundwelt, irgendwo zwischen Schauder und Faszination. Geschrieben als ein Monolog ist »Radio Noir« bei seiner Premiere in Stuttgart aber viel mehr als das. Bossert vereint in dem Stück unterschiedlichste Kunstformen. Auf ihrem Ritt durch die Nacht wird Parthenope, dargestellt von Christine Binder, von den »Straßensoul«-Klängen des Hip-Hop- und Soul-Sängers Amaris, den Graffitis und Rauminstallationen des Illustrators und Künstlers Patrick Oltean und den Tänzern der New York City Dance School, die ihre Körper lasziv zu den Tanzchoreografien von Monika Kebieche-Loreth bewegen, begleitet. Eine Bühne gibt es keine. Oder besser: ganz viele.
Als Austragungsort hat sich die Regisseurin für ihre außergewöhnliche Inszenierung einen ebenso außergewöhnlichen Ort ausgesucht. Der Club Zollamt unweit des Cannstatter Wasens dient als Kulisse für diesen »mentalen Roadtrip durch die Seelen einer Großstadt«. Dabei wird im gesamten Club gespielt. Der Zuschauer folgt den Protagonisten von Raum zu Raum, von Szene zu Szene, ist mittendrin im Geschehen. Und doch gleichzeitig in seiner Rolle als Beobachter geschützt. »Auch wenn es nicht wie ein typisches Theater klingt«, sagt Bossert, bleibe es Theater. »Niemand wird aufgefordert, mitzumachen.« Diese Grenze will sie wahren.
Andere Grenzen aufzubrechen, ist der Regisseurin viel wichtiger. »Mich langweilt die Spartentrennung an herkömmlichen Theaterhäusern«, sagt sie. Musik, Schauspiel, Tanz – »für mich ist das alles eins«, sagt sie und outet sich als großer Anhänger von Cross­over-Inszenierungen. 
Mit ihrer Begeisterung, ihrer Zielstrebigkeit fiel es ihr auch nicht schwer, andere von ihrer Idee zu überzeugen. Mit der Schauspielerin Christine Binder hatte sie vor zwei Jahren das Stück erstmals probeweise im Café Galao gespielt. Schnell haben beide das gleiche Faible für diesen teils verstörenden Text entdeckt. Und auch die anderen waren schnell gefesselt. »Was, so was ist Theater?!«, lautete beispielsweise eine erstaunte Reaktion des Sängers Amaris. So wie ihm soll es auch dem Publikum ergehen. Wer hat sich in seinem Frust, in seinem Kummer, in seiner Wut noch nicht dabei erwischt, wie er daran denkt, alles abzubrechen und hinter sich zu lassen? Darin sind sich Jung und Alt viel ähnlicher, als mancher denkt. »Meine Idealvorstellung ist, wenn jemand mit seinen hippen, tätowierten Freunden bei der Aufführung auf klassisches Theaterpublikum trifft und ins Gespräch kommt«, sagt die Regisseurin. Damit würde ein weiterer Traum in Erfüllung gehen.

www.facebook.com/radionoirstuttgart

Mittwoch, 13. November 2013

Die unendliche Geschichte

 ...oder von einem, der auszog, seinen o2-Vertrag zu wechseln


Kennt ihr noch die alte OB-Werbung, in der es heißt "Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse"? Nun, nicht nur die Menstruation steckt voller Missverständnisse. Habt ihr schon mal versucht, euren bestehenden Vertrag bei o2 zu wechseln? Nein? Dann ein guter Rat: Tut das nicht! Ich wäre froh, hätte mir das jemand im Vorfeld geraten...



Es hat alles ganz harmlos angefangen, mit einer E-Mail an den Kundenservice, in dem ich freundlich darum gebeten habe, die Möglichkeit eines Kombivorteils (Mobilfunkvertrag + DSL) nutzen zu können. Beides hatte ich bereits seit geraumer Zeit, warum also nicht 10,- Euro im Monat sparen? Hier lauerte schon die erste Überraschung: Mein bestehender Vertrag war mit dem Kombivorteil nicht kompatibel, ich müsste diesen ändern. Gleiche Leistung, gleiche Bedingungen, gleicher Preis – nur ein anderer Name. Ein moderner, große Zukunft versprechender Name. Klang gleich viel beeindruckender. "Was für einen DSL-Vertrag hast du?" – "All-in!" Wow! Da fällt es einem doch gleich viel leichter zu wechseln. Geiler Name und 10,- Euro gespart. Ich fühlte mich wie ein König. Nur die Krone und das Zepter fehlten noch.

Kurz nach meiner schriftlichen Zustimmung erfolgte denn auch ein Anruf des Kundencenters, bei dem ich den Wechseln nochmals mündlich bestätigt hatte und alles in die Wege geleitet werden sollte. "In den nächsten Tagen schicken wir Ihnen alle Unterlagen und den Termin der Freischaltung durch." Super, das klappt ja alles einwandfrei! So viel sei schon jetzt verraten: Es war das letzte Mal, dass ich das dachte.

In den nächsten Tagen sollten noch weitere E-Mails folgen. Und das Schönste war, dass jede dieser E-Mails mit neuen Überraschungen verbunden war. Und alle Welt liebt doch Überraschungen. Ja, das tut sie wirklich. Vor allem, wenn sie in drei aufeinander folgenden Aussagen drei unterschiedliche Angaben zu der Vertragslaufzeit bekommt. Diese schwankte zwischen 6 und 24 Monaten. Jede neue Nachfrage, brachte eine neue Zahl hervor. Ich fühlte mich wieder in meine Schulzeit in den Matheunterricht zurückversetzt, als man wild irgendwelche Zahlen als Lösungen präsentierte, wenn man keine Ahnung hatte, wie der Lösungsweg funktioniert. Das Ergebnis: Keine dieser Zahlen hat gestimmt. Das Ergebnis heute ein ähnliches.

Wenige Tage später klingelte es an der Tür. Ein leicht zerstreuter DHL-Fahrer präsentierte mir ein Päckchen. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, etwas bestellt zu haben, aber da es an mich adressiert war, nahm ich das dankend an. Auf dem Fuß die nächste Überraschung. Ja, wir lieben noch immer Überraschungen. Der Inhalt kam mir bekannt vor, war es doch ein Router, wie er bei mir bereits zu Hause stand und jahrelang ohne Ausfälle funktioniert hat. Also wieder E-Mail an o2: "Wozu die neue Hardware?" Die sei nötig, weil der Tarif jetzt umgestellt wird. Dafür bräuchte man einen neuen Router. "Warum?" Ist halt so. Ich muss es nicht verstehen. Ich vertraue mal denen, die das können (sollten).

"Gut", dachte ich mir, "bisher war war ich mit o2 ganz zufrieden, da soll das jetzt an den paar Monaten plus oder minus nicht scheitern. Und die neue Hardware kann ich auch installieren." Ich machte es mit bequem in meinem Wird-schon-werden-Modus, schloss den neuen Router an und wartete nun gebannt auf den Tag der Freischaltung. "Die Freischaltung erfolgt zwischen 8 und 16 Uhr. In dieser Zeit werden Sie nicht telefonieren können." Alles kein Problem, schließlich arbeite ich in dieser Zeit. Den Arbeitstag erfolgreich zu Ende gebracht, machte ich mich auf den Heimweg, in froher Erwartung des neuen Anschlusses. Zu Hause angekommen stellte ich fest, dass  – genau, die nächste Überraschung (wenn man hier überhaupt noch von Überraschungen sprechen kann) – es nicht funktionierte.

Beim Abnehmen des Telefonhörers säuselte mir eine attraktive Frauenstimme "Bitte geben Sie Ihre PIN ein" ins Ohr. PIN? Welche PIN? Bank? Kreditkarte? Handy? Geht nicht. Mehr PINs habe ich nicht. Alle E-Mails gecheckt – bei der Menge könnte man ja eine PIN übersehen haben. Nichts. Also folgte der Griff zum Handy und die Finger wählten die o2-Hotline. "Guten Abend, was kann ich für Sie tun?", fragte mich eine Stimme mit einem starken sächsischen Dialekt. "Heute sollte die Freischaltung erfolgen und ich kann weder telefonieren noch ins Internet." – "Aha. Warum?" – "Ich hatte gehofft, dass Sie mir das verraten würden." – "Also ich sehe hier gerade nichts." – "Und bei mir geht nichts. Mein Telefon verlangt nur die Eingabe einer PIN von mir." – "Dann geben Sie doch die PIN ein." – "Ich habe keine PIN." – "Warum haben Sie keine PIN?" – "Die Frage müsste ich doch wohl eher Ihnen stellen." – "Komisch, Sie hätten sie bekommen sollen." – "Hätte ich. Habe ich aber nicht." – "Okay, das werde ich notieren und es wird sich morgen jemand bei Ihnen melden." Der Erstkontakt war erfolgt, und noch war ich zuversichtlich.

Der nächste Tag verging, ohne dass ich etwas von meinem Anbieter gehört habe. Darum erste Amtshandlung am darauf folgenden Tag: Wieder die Hotline wählen. "Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?" – "Ich habe Sie gestern vermisst!" – "Wie bitte?" – "Ich habe gestern sehnsüchtig auf einen Anruf von Ihnen gewartet, so wie mir vorgestern versprochen wurde. Das ist nicht geschehen." – "Oh, das tut mir leid, der Kollege hat wahrscheinlich vergessen zu sagen, dass es zwei Tage dauern kann." – "Ja, offensichtlich hat er das. Aber macht nichts, jetzt habe ich Sie ja erreicht. Mir fehlt noch immer eine PIN." – "Warum fehlt Ihnen die PIN?" – "Das hatten wir schon: Ich hoffe noch immer, das von Ihnen zu erfahren." – "Also bei mir ist keine PIN hinterlegt." – "So ein Zufall, bei mir auch nicht." – "Aber ich sehe hier gerade, dass eine Störung vorliegt." – "Was für eine Störung?" – "Eine Störung an der Leitung." – "Aber vor drei Tagen war noch alles in bester Ordnung." – "Ja, aber jetzt haben Sie eine neue Leitung." – "Aber ich bin doch immer noch bei o2?" – "Ja, aber die Leitung hat sich geändert und von der bekomme ich ein Störsignal." So ging das gefühlte Stunden. Ende des Gesprächs war, dass mir mal wieder versprochen wurde, sich zu melden.

Wieder zwei Tage später bekomme ich eine SMS: "Lieber Kunde, Ihre Störung wird unter der Nummer GEO......... bearbeitet. Wir setzen und zeitnah mit Ihnen in Verbindung." Dann bin ich ja beruhigt, dass die Störung vier Tage nach dem Erstkontakt endlich bearbeitet wird. Alles zeitnah versteht sich's. Weitere zwei Tage später klingelt das Handy – um 13.50 Uhr. "Guten Tag, hier o2." – "Hallo." – "Uns liegt hier eine Störung vor." – "So ein Zufall, mir auch." – "Sind Sie gerade zu Hause?" – "Sind Sie's?" – "Nein." – "Nun, wie Sie arbeite ich. Demnach bin ich auch nicht zu Hause." – "Das müssen Sie aber sein, damit wir eine Messung vornehmen können." – "Wollen Sie das vielleicht meinem Chef sagen?" Am Ende haben wir vereinbart, dass ich mich zeitnah über die Hotline melde, wenn ich wieder zu Hause bin.

Der Abend des selben Tages. Ich interpretiere zeitnah ein wenig anders. "Guten Abend, was kann ich für Sie tun?" – "Ich sollte mich melden, damit irgendeine Messung durchgeführt werden kann. Dies tue ich hiermit." – "Okay, dann lassen Sie uns mal messen" (...) "Die Messung sagt, dass es funktionieren müsste." – "Tut es aber nicht. Ich habe auch noch immer keine PIN." – "Warum haben sie keine PIN?" – "Ja, Herrgott, weil ich der leibhaftige Messias bin und hellsehen kann! Woher soll denn ich wissen, warum ich keine PIN von Ihnen bekomme?!" – "Also bei mir ist hier auch keine hinterlegt." – "Ja, das weiß ich bereits, habe ich schon vor vier Tagen von Ihrem Kollegen erfahren." – "Bei mir steht hier auch nichts, dass Sie keine PIN bekommen haben..." – "Warum bin ich jetzt nicht überrascht?" Nach etlichen Irrungen und Wirrungen und weiteren Versprechungen der zeitnahen Kontaktaufnahme wurde ich mit den Worten verabschiedet: "Wir führen aktuell eine E-Mail-Umfrage über Kundenzufriedenheit durch, würden Sie..." Den Rest habe ich vor lauter Lachen nicht mehr verstanden...

An dieser Stelle die Preisfrage: Wann erfolgte der nächste Zeitnahe Kontakt? Richtig. Zwei Tage später. Diesmal vormittags, per SMS: "Lieber Kunde! An Ihrer leeren Telefondose ist eine Messung nötig. Bitte rufen Sie und von vor Ort vom Handy unter xxx an. Ihr o2 Team" Überflüssig zu erwähnen, dass ich vor zwei Tagen eine SMS mit exakt dem gleichen Wortlaut bekommen habe. Ausgang des Sich-Meldens, siehe oben. Die Überraschungen halten sich inzwischen in Grenzen. Auch Bill Murray war irgendwann nicht mehr überrascht, dass er jeden Tag den "Tag des Murmeltiers" feiern musste. Nur hatte er einen Nachteil, bei ihm geschah das jeden Tag. Ich habe wenigstens zwei Tage Zeit, bis sich die Schleife wiederholt. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, schließlich war auch das Murmeltier irgendwann Geschichte...

Donnerstag, 7. November 2013

Erfolg ohne Durchbruch

Sie sind einer der, wenn nicht der größte Rock-Export Stuttgarts. Sie füllen deutschlandweit die Konzertsäle und doch blieb ihnen bislang der große Durchbruch verwehrt. Ein Grund dafür mag ihre Musik, die sich in keine Schublade stecken lässt, sein – das stellen sie aktuell wieder mit ihrem neuen Longplayer »The Painstream« unter Beweis. Ein anderer, dass dieser Durchbruch die Band einfach nicht interessiert. »end of green« haben schon immer nur das gemacht, was sie wollten.
Foto: Steffen Schmid


Sie sind ein Phänomen. Längst auf den gro­ßen Festivals zu Hause, sucht man die Stuttgarter Rockband »end of green« vergeblich in der breiten Öffentlichkeit. Der große Durchbruch blieb ihnen – so scheint es – bisher verwehrt, obwohl das aktuelle Album »The Painstream« auf Platz 13 in Deutschland chartete. Doch großes Bedauern klingt anders, wenn Michael Setzer, Gitarrist der Band, sagt, der große Durchbruch »geht mir am Arsch vorbei«. Sie haben als Band so viele Freiheiten, dass sie von vielen darum beneidet werden. Sie sind unabhängig, sie spielen, weil sie spielen wollen, nicht weil sie spielen müssen. Den Mantel der öffentlichen Wahrnehmung, dass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen, können sie dennoch nie ganz ablegen. »Vor Kurzem erst habe ich mich nach einem unserer Gigs mit einem Fan unterhalten, der ständig davon geredet hat, dass aus uns eigentlich hätte etwas ganz Großes werden können«, sagt Setzer. »Am Ende klang das schon so, als würde ich in irgendeiner kleinen Kaff-Band spielen.« Das sind »end of green« beileibe nicht. 

Melodische Melancholie

Der Stuttgarter Fünfer, bestehend aus Michael Huber, Kirk Kerker, Michael Setzer, Matthias Siffermann und Rainer Hampel, ist auf den Konzertbühnen in ganz Deutschland zu Hause. Sie können sich auf eine treue und ständig wachsende Fangemeinde verlassen. Die bisherigen Gigs ihrer Tour, die am 16. November in Stuttgart ihrem finalen Höhepunkt zusteuert, machen Lust auf mehr. Das wissen nicht nur ihre deutschen Fans. Die »end of green«-Gemeinde ist internationaler, als man auf den ersten Blick glauben mag. In Spanien wurde kürzlich ein Fanclub gegründet, für Stuttgart haben sich Fans aus Russland und Kanada angekündigt. Sie alle hat die melodische Seite der Melancholie und Düsternis, die die Band in ihren Songs zu Gehör bringt, gefangen und nicht mehr losgelassen. Dabei bewegt sich der Fünfer musikalisch stilsicher abseits aller Genres. Ist es Metal, Rock, Gothic oder Indie? Die Antwort liegt wohl irgendwo dazwischen. Und es würde der Band nicht gerecht werden, würde man sie auf einen Sound reduzieren. Davon zeugt alleine schon der aktuelle Longplayer. Auf »The Painstream« tummeln sich melodie­schwangere Balladen ebenso wie knackige Rockbretter, radiotaugliche Nummern wie mainstreamferne Songs. Schnell wird klar, da macht eine Band das, was sie will, und lässt sich nicht so leicht verbiegen.

Unpopuläre Entscheidungen

Die Treue zu sich selbst ist vielleicht auch das Charakteristischste, was diese Band seit über 20 Jahren auszeichnet. Sie haben nie wie unzählige Bands vor ihnen alles auf eine Karte gesetzt, haben sich nie von dem Haifischbecken der Musikindustrie schlucken lassen. An Angeboten großer Major-Labels mangelte es nicht. Doch die einen wollten, dass sie auf Deutsch singen, die anderen, dass sie mit externen Songschreibern arbeiten. »Aber man lernt auch nicht eine blonde Frau kennen und sagt ihr dann, sie solle sich die Haare schwarz färben und die Brüste vergrößern lassen«, sagt Setzer. Heute sind sie beim österreichischen Label Napalm Records unter Vertrag und glücklich. »Unpopuläre Entscheidungen« habe man früher treffen müssen. Der eigenen Karriere war das im ersten Moment vielleicht nicht zuträglich, dem eigenen Selbstbewusstsein umso mehr. Und daraus resultiert wiederum der heutige Erfolg der Band. Lieber langsam und kontinuierlich wachsen, statt mit einem Hype hochgepusht zu werden, um dann umso tiefer zu fallen. Beispiele dafür gibt es in der Musikwelt zuhauf. Genauso wie die, denen der Erfolg und das Rock‘n‘Roll-Leben schnell zu Kopf gestiegen ist.

Verantwortung Fans gegenüber

»Sex, Drugs & Rock‘n‘Roll« – sicher, auch die fünf Stuttgarter hatten in der Vergangenheit ihre wilde Zeiten im Tourbus. Und doch rückt Setzer die Verhältnisse zurecht: »Bei uns kam zuerst immer der Rock‘n‘Roll, dann der ganze andere Kram.« Denn bei all den Eskapaden, die einer Rockband auf Tour nachgesagt werden, das Wichtigste für »end of green« war und ist noch immer ein perfekter Gig. Das sei eine Verpflichtung den Fans gegenüber. Daran wird sich auch nie etwas ändern, Durchbruch hin oder her.



Konzertdaten:
end of green
Sa. 16. November, 20 Uhr, LKA Longhorn, Stuttgart
www.endofgreen.de