Mittwoch, 13. November 2013

Die unendliche Geschichte

 ...oder von einem, der auszog, seinen o2-Vertrag zu wechseln


Kennt ihr noch die alte OB-Werbung, in der es heißt "Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse"? Nun, nicht nur die Menstruation steckt voller Missverständnisse. Habt ihr schon mal versucht, euren bestehenden Vertrag bei o2 zu wechseln? Nein? Dann ein guter Rat: Tut das nicht! Ich wäre froh, hätte mir das jemand im Vorfeld geraten...



Es hat alles ganz harmlos angefangen, mit einer E-Mail an den Kundenservice, in dem ich freundlich darum gebeten habe, die Möglichkeit eines Kombivorteils (Mobilfunkvertrag + DSL) nutzen zu können. Beides hatte ich bereits seit geraumer Zeit, warum also nicht 10,- Euro im Monat sparen? Hier lauerte schon die erste Überraschung: Mein bestehender Vertrag war mit dem Kombivorteil nicht kompatibel, ich müsste diesen ändern. Gleiche Leistung, gleiche Bedingungen, gleicher Preis – nur ein anderer Name. Ein moderner, große Zukunft versprechender Name. Klang gleich viel beeindruckender. "Was für einen DSL-Vertrag hast du?" – "All-in!" Wow! Da fällt es einem doch gleich viel leichter zu wechseln. Geiler Name und 10,- Euro gespart. Ich fühlte mich wie ein König. Nur die Krone und das Zepter fehlten noch.

Kurz nach meiner schriftlichen Zustimmung erfolgte denn auch ein Anruf des Kundencenters, bei dem ich den Wechseln nochmals mündlich bestätigt hatte und alles in die Wege geleitet werden sollte. "In den nächsten Tagen schicken wir Ihnen alle Unterlagen und den Termin der Freischaltung durch." Super, das klappt ja alles einwandfrei! So viel sei schon jetzt verraten: Es war das letzte Mal, dass ich das dachte.

In den nächsten Tagen sollten noch weitere E-Mails folgen. Und das Schönste war, dass jede dieser E-Mails mit neuen Überraschungen verbunden war. Und alle Welt liebt doch Überraschungen. Ja, das tut sie wirklich. Vor allem, wenn sie in drei aufeinander folgenden Aussagen drei unterschiedliche Angaben zu der Vertragslaufzeit bekommt. Diese schwankte zwischen 6 und 24 Monaten. Jede neue Nachfrage, brachte eine neue Zahl hervor. Ich fühlte mich wieder in meine Schulzeit in den Matheunterricht zurückversetzt, als man wild irgendwelche Zahlen als Lösungen präsentierte, wenn man keine Ahnung hatte, wie der Lösungsweg funktioniert. Das Ergebnis: Keine dieser Zahlen hat gestimmt. Das Ergebnis heute ein ähnliches.

Wenige Tage später klingelte es an der Tür. Ein leicht zerstreuter DHL-Fahrer präsentierte mir ein Päckchen. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, etwas bestellt zu haben, aber da es an mich adressiert war, nahm ich das dankend an. Auf dem Fuß die nächste Überraschung. Ja, wir lieben noch immer Überraschungen. Der Inhalt kam mir bekannt vor, war es doch ein Router, wie er bei mir bereits zu Hause stand und jahrelang ohne Ausfälle funktioniert hat. Also wieder E-Mail an o2: "Wozu die neue Hardware?" Die sei nötig, weil der Tarif jetzt umgestellt wird. Dafür bräuchte man einen neuen Router. "Warum?" Ist halt so. Ich muss es nicht verstehen. Ich vertraue mal denen, die das können (sollten).

"Gut", dachte ich mir, "bisher war war ich mit o2 ganz zufrieden, da soll das jetzt an den paar Monaten plus oder minus nicht scheitern. Und die neue Hardware kann ich auch installieren." Ich machte es mit bequem in meinem Wird-schon-werden-Modus, schloss den neuen Router an und wartete nun gebannt auf den Tag der Freischaltung. "Die Freischaltung erfolgt zwischen 8 und 16 Uhr. In dieser Zeit werden Sie nicht telefonieren können." Alles kein Problem, schließlich arbeite ich in dieser Zeit. Den Arbeitstag erfolgreich zu Ende gebracht, machte ich mich auf den Heimweg, in froher Erwartung des neuen Anschlusses. Zu Hause angekommen stellte ich fest, dass  – genau, die nächste Überraschung (wenn man hier überhaupt noch von Überraschungen sprechen kann) – es nicht funktionierte.

Beim Abnehmen des Telefonhörers säuselte mir eine attraktive Frauenstimme "Bitte geben Sie Ihre PIN ein" ins Ohr. PIN? Welche PIN? Bank? Kreditkarte? Handy? Geht nicht. Mehr PINs habe ich nicht. Alle E-Mails gecheckt – bei der Menge könnte man ja eine PIN übersehen haben. Nichts. Also folgte der Griff zum Handy und die Finger wählten die o2-Hotline. "Guten Abend, was kann ich für Sie tun?", fragte mich eine Stimme mit einem starken sächsischen Dialekt. "Heute sollte die Freischaltung erfolgen und ich kann weder telefonieren noch ins Internet." – "Aha. Warum?" – "Ich hatte gehofft, dass Sie mir das verraten würden." – "Also ich sehe hier gerade nichts." – "Und bei mir geht nichts. Mein Telefon verlangt nur die Eingabe einer PIN von mir." – "Dann geben Sie doch die PIN ein." – "Ich habe keine PIN." – "Warum haben Sie keine PIN?" – "Die Frage müsste ich doch wohl eher Ihnen stellen." – "Komisch, Sie hätten sie bekommen sollen." – "Hätte ich. Habe ich aber nicht." – "Okay, das werde ich notieren und es wird sich morgen jemand bei Ihnen melden." Der Erstkontakt war erfolgt, und noch war ich zuversichtlich.

Der nächste Tag verging, ohne dass ich etwas von meinem Anbieter gehört habe. Darum erste Amtshandlung am darauf folgenden Tag: Wieder die Hotline wählen. "Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?" – "Ich habe Sie gestern vermisst!" – "Wie bitte?" – "Ich habe gestern sehnsüchtig auf einen Anruf von Ihnen gewartet, so wie mir vorgestern versprochen wurde. Das ist nicht geschehen." – "Oh, das tut mir leid, der Kollege hat wahrscheinlich vergessen zu sagen, dass es zwei Tage dauern kann." – "Ja, offensichtlich hat er das. Aber macht nichts, jetzt habe ich Sie ja erreicht. Mir fehlt noch immer eine PIN." – "Warum fehlt Ihnen die PIN?" – "Das hatten wir schon: Ich hoffe noch immer, das von Ihnen zu erfahren." – "Also bei mir ist keine PIN hinterlegt." – "So ein Zufall, bei mir auch nicht." – "Aber ich sehe hier gerade, dass eine Störung vorliegt." – "Was für eine Störung?" – "Eine Störung an der Leitung." – "Aber vor drei Tagen war noch alles in bester Ordnung." – "Ja, aber jetzt haben Sie eine neue Leitung." – "Aber ich bin doch immer noch bei o2?" – "Ja, aber die Leitung hat sich geändert und von der bekomme ich ein Störsignal." So ging das gefühlte Stunden. Ende des Gesprächs war, dass mir mal wieder versprochen wurde, sich zu melden.

Wieder zwei Tage später bekomme ich eine SMS: "Lieber Kunde, Ihre Störung wird unter der Nummer GEO......... bearbeitet. Wir setzen und zeitnah mit Ihnen in Verbindung." Dann bin ich ja beruhigt, dass die Störung vier Tage nach dem Erstkontakt endlich bearbeitet wird. Alles zeitnah versteht sich's. Weitere zwei Tage später klingelt das Handy – um 13.50 Uhr. "Guten Tag, hier o2." – "Hallo." – "Uns liegt hier eine Störung vor." – "So ein Zufall, mir auch." – "Sind Sie gerade zu Hause?" – "Sind Sie's?" – "Nein." – "Nun, wie Sie arbeite ich. Demnach bin ich auch nicht zu Hause." – "Das müssen Sie aber sein, damit wir eine Messung vornehmen können." – "Wollen Sie das vielleicht meinem Chef sagen?" Am Ende haben wir vereinbart, dass ich mich zeitnah über die Hotline melde, wenn ich wieder zu Hause bin.

Der Abend des selben Tages. Ich interpretiere zeitnah ein wenig anders. "Guten Abend, was kann ich für Sie tun?" – "Ich sollte mich melden, damit irgendeine Messung durchgeführt werden kann. Dies tue ich hiermit." – "Okay, dann lassen Sie uns mal messen" (...) "Die Messung sagt, dass es funktionieren müsste." – "Tut es aber nicht. Ich habe auch noch immer keine PIN." – "Warum haben sie keine PIN?" – "Ja, Herrgott, weil ich der leibhaftige Messias bin und hellsehen kann! Woher soll denn ich wissen, warum ich keine PIN von Ihnen bekomme?!" – "Also bei mir ist hier auch keine hinterlegt." – "Ja, das weiß ich bereits, habe ich schon vor vier Tagen von Ihrem Kollegen erfahren." – "Bei mir steht hier auch nichts, dass Sie keine PIN bekommen haben..." – "Warum bin ich jetzt nicht überrascht?" Nach etlichen Irrungen und Wirrungen und weiteren Versprechungen der zeitnahen Kontaktaufnahme wurde ich mit den Worten verabschiedet: "Wir führen aktuell eine E-Mail-Umfrage über Kundenzufriedenheit durch, würden Sie..." Den Rest habe ich vor lauter Lachen nicht mehr verstanden...

An dieser Stelle die Preisfrage: Wann erfolgte der nächste Zeitnahe Kontakt? Richtig. Zwei Tage später. Diesmal vormittags, per SMS: "Lieber Kunde! An Ihrer leeren Telefondose ist eine Messung nötig. Bitte rufen Sie und von vor Ort vom Handy unter xxx an. Ihr o2 Team" Überflüssig zu erwähnen, dass ich vor zwei Tagen eine SMS mit exakt dem gleichen Wortlaut bekommen habe. Ausgang des Sich-Meldens, siehe oben. Die Überraschungen halten sich inzwischen in Grenzen. Auch Bill Murray war irgendwann nicht mehr überrascht, dass er jeden Tag den "Tag des Murmeltiers" feiern musste. Nur hatte er einen Nachteil, bei ihm geschah das jeden Tag. Ich habe wenigstens zwei Tage Zeit, bis sich die Schleife wiederholt. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, schließlich war auch das Murmeltier irgendwann Geschichte...

Donnerstag, 7. November 2013

Erfolg ohne Durchbruch

Sie sind einer der, wenn nicht der größte Rock-Export Stuttgarts. Sie füllen deutschlandweit die Konzertsäle und doch blieb ihnen bislang der große Durchbruch verwehrt. Ein Grund dafür mag ihre Musik, die sich in keine Schublade stecken lässt, sein – das stellen sie aktuell wieder mit ihrem neuen Longplayer »The Painstream« unter Beweis. Ein anderer, dass dieser Durchbruch die Band einfach nicht interessiert. »end of green« haben schon immer nur das gemacht, was sie wollten.
Foto: Steffen Schmid


Sie sind ein Phänomen. Längst auf den gro­ßen Festivals zu Hause, sucht man die Stuttgarter Rockband »end of green« vergeblich in der breiten Öffentlichkeit. Der große Durchbruch blieb ihnen – so scheint es – bisher verwehrt, obwohl das aktuelle Album »The Painstream« auf Platz 13 in Deutschland chartete. Doch großes Bedauern klingt anders, wenn Michael Setzer, Gitarrist der Band, sagt, der große Durchbruch »geht mir am Arsch vorbei«. Sie haben als Band so viele Freiheiten, dass sie von vielen darum beneidet werden. Sie sind unabhängig, sie spielen, weil sie spielen wollen, nicht weil sie spielen müssen. Den Mantel der öffentlichen Wahrnehmung, dass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen, können sie dennoch nie ganz ablegen. »Vor Kurzem erst habe ich mich nach einem unserer Gigs mit einem Fan unterhalten, der ständig davon geredet hat, dass aus uns eigentlich hätte etwas ganz Großes werden können«, sagt Setzer. »Am Ende klang das schon so, als würde ich in irgendeiner kleinen Kaff-Band spielen.« Das sind »end of green« beileibe nicht. 

Melodische Melancholie

Der Stuttgarter Fünfer, bestehend aus Michael Huber, Kirk Kerker, Michael Setzer, Matthias Siffermann und Rainer Hampel, ist auf den Konzertbühnen in ganz Deutschland zu Hause. Sie können sich auf eine treue und ständig wachsende Fangemeinde verlassen. Die bisherigen Gigs ihrer Tour, die am 16. November in Stuttgart ihrem finalen Höhepunkt zusteuert, machen Lust auf mehr. Das wissen nicht nur ihre deutschen Fans. Die »end of green«-Gemeinde ist internationaler, als man auf den ersten Blick glauben mag. In Spanien wurde kürzlich ein Fanclub gegründet, für Stuttgart haben sich Fans aus Russland und Kanada angekündigt. Sie alle hat die melodische Seite der Melancholie und Düsternis, die die Band in ihren Songs zu Gehör bringt, gefangen und nicht mehr losgelassen. Dabei bewegt sich der Fünfer musikalisch stilsicher abseits aller Genres. Ist es Metal, Rock, Gothic oder Indie? Die Antwort liegt wohl irgendwo dazwischen. Und es würde der Band nicht gerecht werden, würde man sie auf einen Sound reduzieren. Davon zeugt alleine schon der aktuelle Longplayer. Auf »The Painstream« tummeln sich melodie­schwangere Balladen ebenso wie knackige Rockbretter, radiotaugliche Nummern wie mainstreamferne Songs. Schnell wird klar, da macht eine Band das, was sie will, und lässt sich nicht so leicht verbiegen.

Unpopuläre Entscheidungen

Die Treue zu sich selbst ist vielleicht auch das Charakteristischste, was diese Band seit über 20 Jahren auszeichnet. Sie haben nie wie unzählige Bands vor ihnen alles auf eine Karte gesetzt, haben sich nie von dem Haifischbecken der Musikindustrie schlucken lassen. An Angeboten großer Major-Labels mangelte es nicht. Doch die einen wollten, dass sie auf Deutsch singen, die anderen, dass sie mit externen Songschreibern arbeiten. »Aber man lernt auch nicht eine blonde Frau kennen und sagt ihr dann, sie solle sich die Haare schwarz färben und die Brüste vergrößern lassen«, sagt Setzer. Heute sind sie beim österreichischen Label Napalm Records unter Vertrag und glücklich. »Unpopuläre Entscheidungen« habe man früher treffen müssen. Der eigenen Karriere war das im ersten Moment vielleicht nicht zuträglich, dem eigenen Selbstbewusstsein umso mehr. Und daraus resultiert wiederum der heutige Erfolg der Band. Lieber langsam und kontinuierlich wachsen, statt mit einem Hype hochgepusht zu werden, um dann umso tiefer zu fallen. Beispiele dafür gibt es in der Musikwelt zuhauf. Genauso wie die, denen der Erfolg und das Rock‘n‘Roll-Leben schnell zu Kopf gestiegen ist.

Verantwortung Fans gegenüber

»Sex, Drugs & Rock‘n‘Roll« – sicher, auch die fünf Stuttgarter hatten in der Vergangenheit ihre wilde Zeiten im Tourbus. Und doch rückt Setzer die Verhältnisse zurecht: »Bei uns kam zuerst immer der Rock‘n‘Roll, dann der ganze andere Kram.« Denn bei all den Eskapaden, die einer Rockband auf Tour nachgesagt werden, das Wichtigste für »end of green« war und ist noch immer ein perfekter Gig. Das sei eine Verpflichtung den Fans gegenüber. Daran wird sich auch nie etwas ändern, Durchbruch hin oder her.



Konzertdaten:
end of green
Sa. 16. November, 20 Uhr, LKA Longhorn, Stuttgart
www.endofgreen.de

Dienstag, 29. Oktober 2013

Unterwegs mit dem Chefankläger

Der Tübinger Regisseur Marcus Vetter hat in der Vergangenheit bereits zahlreiche Preise für seine Dokumentarfilme erhalten. Für seinen aktuellen Film »Der Chefankläger« begleitete er drei Jahre lang den ersten Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, reiste mit ihm in die Krisenherde der Erde, sah ihm über die Schulter, traf Angelina Jolie und charismatische Idealisten. Ein Film und eine Begegnung, die das Denken und das Leben des Regisseurs nachhaltig prägen.

Chefankläger Luis Moreno Ocampo. Foto: Bukera Pictures

Es sind Bilder, die unter die Haut gehen. Bilder, die schockieren, und Bilder, die ein aufwühlendes Gefühl aus Nichts-tun-Können, Wut und Trauer hinterlassen. Ein kleiner Junge wird von afrikanischen Milizen verschleppt, auf die Laderampe eines Pick-ups geworfen, geschlagen und getreten. Ein israelischer Reporter telefoniert während einer Live-Sendung mit einem Mann im Gaza-Streifen, wo just in dem Augenblick des Telefonats eine eingeschlagene Granate seine Töchter tötet. Ein junger Heranwachsender wird von bewaffneten Milizen befragt, wo er herkomme. Flehend gibt er seinen Widersachern die Antworten, unsicher versucht er ihnen zu entkommen, nur nutzt das nichts. Er wird auf offener Straße erschossen.

Keine Hollywood-Produktion

Diese Szene sind keinen Hollywood-Produktionen entsprungen, sie sind real. Und sie sind ein kleiner und doch so wichtiger Bestandteil des neuen Films des Tübinger Regisseurs Marcus Vetter. In »Der Chefankläger« begleitete der schwäbische Filmemacher den ersten Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Luis Moreno Ocampo, drei Jahre lang und dokumentierte seine Arbeit und seinen Einsatz für mehr Gerechtigkeit auf der Welt. Eine Gerechtigkeit, die in vielen Ecken der Erde nicht vorkommt, das demonstrieren die gezielt eingesetzten Schock-Szenen. »Wir haben viel über diese Bilder diskutiert, weil sie so hart sind, dass sie einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Und weil sie nicht mehr aus dem Kopf gehen, müssen sie in den Film. Dem Zuschauer muss durch diese Bilder klar werden, warum der ICC so wichtig ist«, sagt der Regisseur und gibt damit zugleich seinen Antrieb für den Film preis.

»Der Chefankläger« war geboren

Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag nahm seine Arbeit am 1. Juli 2002 auf und ist dafür zuständig, gegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression, die seit der Gründung auf der Welt geschehen, vorzugehen. All die Verbrechen, bei denen sich Führer über das Gesetz, über das Völkerrecht stellen. Jeder weiß, dass dies auf der Welt passiert. Aber man schaut gerne weg. Man ist froh, dass man nicht selber in der Situation steckt, und die Täter kommen ungeschoren davon. Seit nunmehr elf Jahren gibt es mit dem ICC aber eine Instanz, die diese Menschen vor Gericht stellt. Oder stellen könnte. Die Akzeptanz des Strafgerichtshofs ist nicht überall auf der Welt gleich. Länder wie die USA, Russland, China oder Israel sind keine Mitgliedsstaaten, für sie gilt das Rom-Statut, was die vertragliche Grundlage des ICC ist, nicht. Sie können nicht belangt werden. Wenn es nach dem ersten Chefankläger des ICC, Luis Moreno Ocampo, geht, noch. Seine mutige Vision von der Zukunft ist, dass in 20 Jahren alle Staaten der Welt dem ICC unterstellt sein werden. Der Weg dorthin wird aber lang und steinig. Auch heute noch wissen viele nichts von der Arbeit des Internationales Strafgerichtshofs. Das war auch Ocampo bei seiner Amtseinführung klar. Darum kontaktierte er den Tübinger Regisseur Marcus Vetter. Der ICC musste in die Öffentlichkeit! »Der Chefankläger« war geboren.

Palästina, die treibende Kraft

»Ursprünglich sollte es in dem Film um Paläs­tina gehen«, erinnert sich Vetter. Der Chefankläger sei auf ihn zugekommen, als er Vetters Film »Das Herz von Jenin« gesehen habe. Der Film erzählt die Geschichte des Palästinensers Ismail Khatib. Er spendete die Organe seines von den Israelis erschossenen Sohns an israelische Kinder. »Ocampo hat das Thema der Aussöhnung des Films sehr interessiert«, so der Regisseur. Der ICC befand sich in der Zeit an einem Punkt, an dem die Mitgliedschaft Palästinas heiß diskutiert wurde. Dies sollte das Thema der Dokumentation werden. Doch weil sich dieser Prozess immer mehr in die Länge zog, musste ein neuer Plan her.

Lubanga ein Glücksfall

»Uns war plötzlich klar, dass es nicht das alleinige Thema sein kann. ICC hat mehrere Fälle und wir haben nach einem roten Faden gesucht. Diesen haben wir in dem ersten Fall des ICC, der wirklich zum Abschluss gebracht wurde, gefunden«, berichtet der Filmemacher. Das war der Fall gegen Thomas Lubanga Dyilo, dem kongolesischen Milizenführer und Gründer der berüchtigten UPC. Er war der erste Angeklagte, der sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten musste, und es war zeitgleich auch der erste und einzige Fall von Ocampo, der zum Abschluss gebracht wurde. Für das Filmteam ein Glücksfall: »Für uns war das natürlich toll. Wir konnten in das Gericht gucken, hatten Material exklusiv zur Verfügung gestellt bekommen.« Sie haben die Arbeit aller Beteiligten hautnah erlebt, konnten sich einen eigenen Eindruck vom Angeklagten machen – »Er sah nicht aus wie ein Monster« – und vor allem hatten sie eine Entscheidung in dem Film. Denn mit Lubangas Verurteilung endete auch Ocampos Amtszeit am Gerichtshof.

Ein Mann mit Charisma

Luis Moreno Ocampo ist eine schillernde Persönlichkeit. Das erste Mal trat er bei den Prozessen gegen die argentinische Militärdiktatur in Erscheinung. Richtig zu glühen begann sein Stern als Chefankläger. Mitunter wirkt er im Film, als würde er die Macht genießen, als würde er sich gerne im Mittelpunkt sehen. Der Filmemacher, der drei Jahre an Ocampos Seite verbracht hat, sieht das anders: »Er hat sehr viel Charisma, aber er drängt sich nicht auf.« Vielmehr sei es so, dass sich alle aufgrund seines Charismas auf ihn gestürzt haben, was ihm wiederum die Öffentlichkeit bescherte. Natürlich verstand es Ocampo auch, die Medien für sich zu nutzen, er hatte seine Antennen überall. Er wusste genau, warum er gerade bei seinem Fall, der auch noch mit einer Kamera begleitet wird, Hollywood-Superstar Angelina Jolie genauso mit ins Boot holte wie einen der Chefankläger der Nürnberger Prozesse, Benjamin Ferencz. Er wollte alles daransetzen, dass die Arbeit des ICC die Aufmerksamkeit bekommt, die sie seiner Meinung nach verdient.

Wie ein Besessener

Als Chefankläger arbeitete Ocampo wie ein Besessener, immer getrieben von seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und seinem Optimismus. Der Film zeigt ihn fast immer am Telefon – in seinem Büro, im Auto, im Flugzeug. Seine Gesprächspartner sind Rebellenführer und seine Assistenten. Er jettet von einem Land ins nächste, um diejenigen dingfest zu machen, die sich über das Völkerrecht setzen. Und doch gelingt und gelang ihm in seiner Amtszeit nicht alles. »Er hätte noch gerne vieles mehr als nur den Lubanga-Fall zu Ende gebracht«, so Vetter. Mit dem Staatspräsidenten des Sudan, Omar Hassan al-Baschir, hatte er eine Art Privatfehde. Der ICC erließ als Folge des Darfur-Konflikts einen Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Der Präsident hat den Chefankläger immer wieder gefoppt, weil er ständig in Länder gereist ist, in denen er eigentlich hätte verhaftet werden sollen, weil sie dem ICC angehören. Und das ist nicht passiert. Das nagt – auch heute noch – an ihm. Er ist aber keiner, der dann den Kopf  in den Sand steckt und sagt, dass es nichts mehr bringe. Sondern er ist jemand, der andere Wege sucht.

Auf den Spuren von Gaddafi

Vetter hat ihn auf diesen Wegen begleitet. Sie führten ihn im Zuge der Dreharbeiten außer nach Den Haag auch nach Österreich, New York und nach Lybien. Lybien war dabei das einschneidendste Erlebnis. Zu der Zeit, als sich die Bevölkerung gegen ihren Despoten erhoben hat, war auch der Chefankläger Muammar al-Gaddafi und seinem Sohn Saif auf den Fersen. Sie sollten vor Gericht in Den Haag gestellt werden. »Wir hatten gar keine Einreiseerlaubnis, wir mussten uns reinschmuggeln lassen,« erinnert sich Vetter. »Das sieht man dem Film nachher nicht an, wie schwierig es war, mit Ocampo so schnell dorthin zu kommen.« Auch in Lybien zeigte sich, dass das Potenzial des Strafgerichtshofs noch ausbaufähig ist. Ja, sicherlich hätte der Chefankläger gerne Gaddafi vor Gericht gestellt, nur war es unter den gegebenen Umständen der Ermordung des ehemaligen Staatschefs durch die Rebellen nicht möglich. Aber seinen Sohn Saif hätte Ocampo sehr gerne in Den Haag gehabt. Bekommen hat er ihn nie, weil er sich vor der Gerichtsbarkeit des eigenen Landes verantworten muss. Aber aufgegeben hat der Chefankläger deswegen noch lange nicht.

Glaube an die Gerechtigkeit

Dieser unermüdliche Glaube an die Gerechtigkeit, der Antrieb Ocampos in all seinem Handeln, färbte bald auch auf den Regisseur ab. Ihn haben die Dreharbeiten nachhaltig geprägt, er weiß jetzt um die Bedeutung des ICC für die Welt. »All meine Filme sind für mich fast wie ein Universitätsstudium«, sagt Vetter. Dank seiner Filme – und besonders wegen Luis Moreno Ocampo – hat er gelernt, dass man manchmal die Sachen einfach machen muss. »Nicht lange darüber diskutieren, was nicht geht, sondern das zu tun, was geht!« Oft werde man zwar dafür kritisiert, wenn man etwas macht und es nicht so läuft, wie es sollte. Der Erste macht mehr Fehler als der Letzte. Bei jedem Computer-Programm ist die Version 1 nicht die beste. Aber ohne diese würde es auch keine Version 8 geben und es würde sich nichts ändern. Auch nicht das Schicksal tausender Unschuldiger, die leiden müssen.

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Wenn Worte glücklich machen

Foto: Stefan Heilemann
Das Schreiben kann viele Gründe und Zwecke haben. Es dient der Information, der Unterhaltung oder dem Maßregeln. Für den Stuttgarter Björn Springorum hat das Schreiben eine ganze eigene Bedeutung: Es macht ihn glücklich. Umso schöner, wenn dabei etwas Spannendes für die Nachwelt entsteht. Denn im Oktober veröffentlicht der gelernte Journalist seinen ersten Roman.

Man muss als junger Autor heutzutage schon naiv genug sein oder einen sehr guten Plan haben, wenn man sich in die Fänge der Verlagswelt begibt. Klangvolle Namen gibt es viele, noch viel größer ist die Zahl derer, die mit ihren Werke ein trostloses Dasein fristen. Der Stuttgarter Björn Springorum wagt den Sprung in diese Gewässer. Am 11. Oktober erscheint bei Bastei Lübbe sein Debütroman »Der Herbstbringer«. Es ist die Geschichte eines jungen heranwachsenden Mädchens, das im Heim aufwächst und sich nicht an seine Vergangenheit erinnert, eines Mädchens, das ein dunkles Geheimnis in sich trägt. Es geht um Mystik, übernatürliche Mächte und um Vampire. Doch eines gleich vorweg: Auch wenn es ein Vampir-Jugendroman ist, mit Twilight hat dies rein nichts zu tun. Die Idee zu dem Buch entsprang einem nächtlichen Traum: Wie ist es, wenn man lebendig begraben wird? Und wie ist es, wenn man dabei unsterblich ist? Zugegeben, ein Traum, wie ihn nicht jeder träumt. Aber Björn Springorum ist auch nicht jeder.

Was für andere Menschen gute Filme, spannende Bücher oder actionreiche Videospiele sind, ist für den 30-Jährigen das Schreiben. »Beim Schreiben kann ich mich am besten entspannen«, sagt er. So kommt er zur Ruhe, findet den inneren Ausgleich und ist zufrieden. Schreibblockade? Kennt er nicht. Wenn er sich an den Rechner setzt und seine Gedanken und Ideen zu Papier bringt, ist er in einer Welt gefangen, in der er gerne ein Gefangener ist und aus der er nur ungerne wieder ausbricht. »Wenn ich mal aus Zeit- oder anderen Gründen nicht dazu komme, zu schreiben, merke ich schnell, dass mir irgendetwas fehlt, ich werde immer rastloser und ungeduldiger.« Das Absurde dabei ist, dass mit das Einzige, was ihn vom Schreiben abhält, das Schreiben selbst ist.
Björn Springorum arbeitet seit vielen Jahren als Journalist, er schreibt u.a. für die Stuttgarter Nachrichten, die Esslinger Zeitung, den Metal Hammer, Lift, Piranha und und und. Freizeit ist oft ein Luxusgut. Doch ist Schreiben nicht gleich Schreiben. »Ich liebe meinen Beruf, liebe es, Texte zu verfassen«, sagt er. »Aber wenn ich Bücher schreibe, dann ist es etwas ganz anderes.« Bücher seien viel persönlicher. In ihnen kehrt er sein Innerstes nach außen, verarbeitet Erlebtes, Träume und Gedanken bekommen eine Gestalt. Bücher zu schreiben ist für ihn das reine Glück.

»Der Herbstbringer« ist bereits das dritte Buch, von insgesamt vier, die er bereits geschrieben hat, und das erste, das in den Buchhandel kommt. Wenn Springorum über sein Werk spricht, dann redet er wie ein Vater, der über die ersten Schritte seine Sohnes berichtet. Er holt kaum Luft, lässt das frisch servierte Essen stehen, trinkt nur ab und an einen Schluck. Die Anekdoten, wie viel Glück er mit seiner Lektorin und seinem Verlag hatte, die kaum welche bis gar keine Änderungen am Manuskript hatten, sprudeln aus ihm heraus. Seine Aufregung so kurz vor dem Erscheinen des Buches ist greifbar. Er, der in seinem Berufsleben schon so viele Kritiken geschrieben hat, muss sich jetzt der Kritik von außen stellen. Ob er denn auch kritikfähig sei? »Das werde ich dann sehen, wenn die ersten negativen Kritiken kommen«, lacht der Autor. »Aber es allen recht machen kann man eh nicht.« So naiv ist er nicht.

Montag, 2. September 2013

Die Intimität der Musik

Foto: EMQI
Der Tübinger David Orlowsky ist einer der bedeutendsten Klezmer-Musiker Deutschlands. Mit seinem Trio gilt er heute als richtungsweisend im Bereich der neuen Weltmusik. Das belegen nicht zuletzt  die zwei ECHO-Auszeichnungen, die Orlowsky verliehen wurden. Die Konzerte seines Trios sind Höhepunkte, wie man sie in ihrer Intimität selten erlebt. Im Gespräch mit mir erklärt der Klarinettist den Unterschied zwischen Klezmer und populärer Musik, und sagt, warum sie nicht im Stadion funktioniert.


Was haben David Orlowsky und David Garrett gemeinsam?
(lacht) Nur den Vornamen.

Stimmt nicht ganz: Beide haben ihren ersten ECHO-Klassik im Jahr 2008 gewonnen.
Oh, okay, dann haben wir doch etwas gemeinsam. (lacht)
 
Und was unterscheidet den einen David von dem anderen?
Eigentlich eine ganze Menge. Erst mal natürlich das Instrument, David Garrett spielt Geige, ich Klarinette. Und auch in der Musik unterscheiden wir uns. Wir haben uns zwar damals beim ECHO kurz kennengelernt, aber ich kenne ihn dennoch nicht wirklich.

David Garrett ist heute ein Star, dich kann man trotz deiner Erfolge ruhigen Gewissens als einen »Geheimtipp« bezeichnen. Ist Klarinette nicht so massentauglich wie Geige?
Unsere Musik ist sicherlich etwas weniger kommerziell als das, was David Garrett macht. Bei uns im Trio ist es wirklich nicht das Ziel, möglichst viele Menschen zu erreichen. Das wäre mit Klezmer auch ziemlich schwer. Unsere Variante der Musik ist ziemlich komplex. Der Klezmer, wie wir ihn spielen, ist harmonisch weiterentwickelt, es kommt vieles aus dem Jazz, vieles aus der zeitgenössischen Musik dazu. Das ist etwas, was uns persönlich sehr interessiert, aber nicht unbedingt die ganz große Masse anspricht.

Hoffst du, dass es sich eines Tages ändert und auch Klezmer in der Mitte der Musikgesellschaft ankommt?
Wir machen das, was uns gefällt, und ich habe nicht das Gefühl, dass wir zu wenig Erfolg damit haben. Unsere Musik ist nicht für Stadien gemacht. Wir fühlen uns in Kirchen, in Kammermusiksälen, in kleineren Räumen, in denen man den direkten Draht zum Publikum hat, wohl. Das funktioniert nicht, wenn 5.000 oder 10.000 Menschen im Publikum sitzen. Die Intimität der Musik würde man so überhaupt nicht mitbekommen.

Du bist zweifacher ECHO-Preisträger. Welche Bedeutung haben solche Preise für dich?
Natürlich haben die Preise eine Bedeutung insofern, dass sie eine Wertschätzung sind, die einen freut. Gleichzeitig bedeuten sie aber nicht, dass man etwas erreicht hat, auf dem man sich ausruhen kann. Ich glaube keinem, der behauptet, solche Preise wären ihm egal.

Wie ist das typische David Orlowsky-Publikum?
Die meisten Menschen, die zu unseren Konzerten kommen, sind Menschen, die sich mit Musik beschäftigen. Sie hören viel Musik, gehen viel auf Konzerte, kaufen sich viele Platten. Das sind Menschen, für die Musik im Leben sehr wichtig ist. Menschen, die nur mal kurz zum Musikantenstadel reinschalten und ansonsten nur das Radio anmachen, findet man bei uns nicht. Für sie ist unsere Musik wahrscheinlich nicht direkt genug. Bei uns muss man auf die Musik zukommen, sich diese erschließen. Ein Florian Silbereisen beispielsweise bedient sich ganz einfacher Strukturen, was die Musik angeht. Das will ich nicht bewerten und sagen, dass dies schlecht sei. Das ist einfach nur eine ganz andere Art und Weise, Musik zu machen. Sie kommt direkt und ohne Umwege bei den Menschen an.

Wie hast du dir die Musik erschlossen? Schließlich hast du schon im Alter von 10 Jahren damit angefangen.
Musik hat bei uns in der Familie immer eine große Rolle gespielt. Meine Mutter ist Geigenlehrerin, meine Schwester hat Geige gespielt, mein Bruder ist ein sehr guter Pianist. Bei mir hat sich das im Laufe der Zeit entwickelt. Anfangs war ich gar kein Klassik-Fan, ich wollte nur Michael Jackson hören. Durch Konzerte und Hörerlebnisse hat sich das Interesse an der Musik immer weiterentwickelt.

Dabei hast du zunächst nicht Klarinette, sondern Schlagzeug gespielt...
Ich war als Schlagzeuger mit einem Orchester unterwegs und durfte mal in eine Klarinette reinblasen. Das war für mich ein echtes Aha-Erlebnis. Ein Jahr später war ich dann auf einem Konzert von Giora Feidman (einer der bekanntesten Klezmer-Musiker weltweit, Anm. d. Red.), von da an hat mich die Klarinette richtig gepackt.

Hat Giora Feidman deinen musikalischen Werdegang nachhaltig geprägt?
Absolut. Er hat ihn überhaupt erst in Gang gesetzt. Davor war ich ein typischer Musikschul-Schüler, mäßig motiviert und mit mehr Interesse für andere Sachen. Dank Giora Feidman habe ich festgestellt, dass Musik mich richtig begeistern kann. Davor war ich ein Musikkonsument, er hat den Wunsch in mir ausgelöst, selber etwas zu machen.

Du warst im besten Teenager-Alter, als du in die Lehre von Giora Feidmann gegangen bist. Hat man als 16-Jähriger nicht ganz andere Probleme im Kopf?
(lacht) Naja, es ist nicht gerade ein Coolness-Faktor, wenn man zu Hause bleibt und Klarinette übt. Aber mein Gott, jeder macht das, was er will. Andere haben Fußball gespielt, bei mir war es die Klarinette. Ja, ich war 16, aber ich bereue es nicht.
 
Kannst du dir heute überhaupt noch einen Tag ohne das Instrument vorstellen?
Oh, ja! (lacht) Und das schon sehr bald. Noch zwei Konzerte spielen, eine Aufnahme machen und dann geht es in den Urlaub. Dann ist die Klarinette schön im Schrank verstaut und ich gehe surfen.

Du und dein Trio habt euch musikalisch immer weiterentwickelt. Unter welchen musikalischen Einflüssen steht ihr? 
Der Ursprung, den man nach wie vor in vielen Stücken durchschimmern hört, ist natürlich Klezmer. Ansonsten sind es viele Einflüsse. Es ist zum Beispiel ganz viel elektronische Musik dabei. Ich glaube, dass alles, was einen klanglich umgibt, den Geschmack formt. Alles, was ich auf meinem iPhone oder im Radio höre, beeinflusst mich und das, was ich schreibe.

Ist Klezmer in deinen Augen eine unterschätzte Musik?
Ich weiß gar nicht, ob man Musik »unterschätzen« kann. Denn jeder geht doch im Endeffekt auf die Konzerte, auf die er Lust hat.

Was fasziniert dich an der Musik?
Sie hat mich einfach ganz intuitiv angesprochen, ich habe sie sofort verstanden. Ich glaube, viele Menschen würden sie schnell verstehen, weil sie eine ganz menschliche Ebene hat. Durch die Tonalität und Rhythmen ist die Musik sehr emotional.

Ihr beschreibt eure Musik als »Kammerweltmusik«. Kannst du bitte erklären, was dahintersteckt?
Der Begriff setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Kammermusik und Weltmusik. Kammermusik deswegen, weil wir uns als gleichwertiges Kammermusikensemble sehen. Das ist keine Soloklarinette mit einer Rhythmustruppe hinten dran – auch wenn es David Orlowsky Trio heißt. Das war, nebenbei bemerkt, überhaupt nicht meine Idee. Das ist der Kammermusikteil. Wir achten auch sehr viel auf Feinheiten, können stundenlang an irgendwelchen Noten rumschrauben. Die Weltmusik kommt daher, dass das Tonmaterial und die gewisse Direktheit, das Tänzerische aus allen möglichen Musikstilen kommt. Balkan ist eindeutig hörbar, öfter auch mal arabische Sachen, besonders in den improvisierten Abschnitten.

Wie viel roter Faden und wie viel Improvisation gibt es auf den Konzerten vom David Orlowsky Trio?
Das hängt immer ein wenig vom Abend ab, von den Gästen, von dem Raum, in dem wir auftreten. Die Stücke haben alle ein Gerüst, eine feste Form. Aber in den Stücken gibt es ganz freie Abschnitte, die Raum für ein Solo lassen. Außerdem haben wir immer die Freiheit, verschiedene Sachen zu variieren und quasi um die Stücke drum herum zu spielen. Das ist nicht wie beim Mozart-Klarinettenkonzert, bei dem jede Note vorgeschrieben ist. Kein Konzert ist wie das andere, das wäre sonst ziemlich langweilig.

Dienstag, 16. Juli 2013

30. Umsonst & Draußen Mössingen: Von Generation zu Generation

Stefanie Dürr und Marcel Valin organisieren
das Umsonst & Draußen Festival in Mössingen.
Foto: privat
Ihre Eltern feierten dort. Sie feierten dort. Und jetzt organisieren sie es. Das Umsonst & Draußen Festival ist in Mössingen eine Institution. Seit 30 Jahren feiern dort Junge und Junggebliebene zwei Tage ausgelassen bei internationalen Live-Bands. Auf die Beine gestellt wird es von einer Handvoll junger Menschen, deren einziger Lohn der Spaß der Festivalbesucher ist.

»Das Beste ist, wenn man sieht, dass es den anderen gefällt«, selten genug hört man heutzutage solch selbstlosen Sätze. Diesmal kommt er vom 18-jährigen Marcel Valin. Gemeinsam mit der 28-jährigen Stefanie Dürr organisiert er das Umsonst & Draußen Festival in Mössingen. Ein Festival, das seit 30 Jahren eine echte Institution der Region ist. Und ein Festival, das sehr viel Arbeit und Einsatz abverlangt. Bleibt die Frage, warum junge Menschen so viel Nerven, Zeit und Kraft für etwas investieren, von dem sie selber wegen der vielen Arbeit kaum etwas mitkriegen? »Also Geld gibt es keines«, lacht Stefanie Dürr. Und Valin ergänzt, dass er sich die Frage auch öfter stelle. Doch schnell kommen beide auf einen Nenner. Es sei eine Art Befriedigung, wenn man abends zusammen mit dem Team steht und sieht, dass alles funktioniert. Die Bands spielen, viele Besucher sind gekommen, die Getränke laufen. Dann ist Zeit, auf sich und den Erfolg stolz zu sein. Zu Recht. Denn während andere Jugendliche feiern und ihren Hobbys nachgehen, klemmen sich Valin, Dürr und andere vom Organisationsteam hinter ihre Rechner und Telefone und planen ein Event, das mehr als nur ein kleiner Farbtupfer in der Open-Air-Landschaft ist.

»Wir beide sind Mössinger Kinder«, sagt Dürr, die hauptberuflich in der Heilerziehungs- und Altenpflege tätig ist. »Für uns gibt es das U&D schon immer.« Und es fühle sich gut an, diese Tradition fortzusetzen. Es ist eine Tradition, die vor Kurzem noch am seidenen Faden hing. Das Festival stand vor dem Aus. Der Platz, auf dem das Event jahrelang stattgefunden hat, wurde bebaut. Eine Sporthalle kam dorthin. Jahrelang haben Privatpersonen das Festival auf die Beine gestellt. Doch das finanzielle Risiko wurde zu groß. Mal kamen Besucher, mal sind sie weggeblieben. Es musste sich etwas ändern, sollte das Umsonst & Draußen, eine der ältesten Veranstaltungen der Region, weiterhin Bestand haben. Man fand einen neuen Platz, der sich später als ein Vorteil herausstellen sollte. Man belebte wieder den Verein Monokultur, der jetzt hinter dem Festival und der Organisation steht. Und die Besucher ließen nicht auf sich warten. »Dass es jetzt das 30. U&D gibt, ist ein großer Erfolg«, sagt Dürr. »Wir wollen nicht, dass es stirbt«, ergänzt Valin. Dafür habe das Festival eine viel zu große Bedeutung für sie.

Nationale und internationale Bands reißen sich mitunter darum, auf dem Hegwiesensportplatz zu spielen. Aberhunderte Bewerbungen erreichen die Macher. Kein Wunder, treffen doch die Bands in Mössingen auf ein begeistertes und begeisterndes Publikum. An diesem Wochenende kommen Studenten, die außerhalb studieren, zurück in ihre Stadt. Die gesamte Jugend trifft sich. Familien mit Kindern treffen auf feiernde Teenager. Es ist ein »Mehrgenerationen-Festival«, wie die Macher sagen. »In meinem Alter kenne ich niemanden, der nicht hingeht«, so Valin. Und auch bei der diesjährigen, der 30. Auflage, werden sich wieder rund 2.500 Besucher pro Tag auf dem Gelände tummeln. Sich die Bands anhören, feiern. Und die wenigsten werden wissen, dass sie diesen Spaß einer Handvoll selbstloser Jugendlicher zu verdanken haben.

Umsonst & Draußen Mössingen
Fr. 26. und Sa, 27. Juli,
Hegwiesensportplatz, Mössingen
www.umsonstunddraussen.com

Freitag, 17. Mai 2013

Mit anderen Augen

Die Teilnehmer des 1. Fotomarathon Stuttgart. Foto: fmtn stgt 2013

 100 Fotografen, sechs Stunden, zwölf Bilder – der erste Stuttgarter Fotomarathon feierte im Mai eine erfolgreiche Premiere. Und mittendrin ich. Gemeinsam mit anderen Hobby- und Profifotografen habe ich mich auf eine spannende und kreative Entdeckungsreise quer durch die Landeshauptstadt begeben. Und viel dabei entdeckt...

»Und? Fertig?«, erreicht mich am Freitagmittag die Nachricht eines Freundes. »Ich bin noch nicht mal zu Hause angekommen«, meine Antwort. Es ist der Vortag einer Premiere, wie es sie in Stuttgart bislang noch nicht gab. Ich, soeben aus dem sonnigen Urlaub gelandet, habe Großes vor: meinen ersten Marathon – den ersten Stuttgarter Fotomarathon. Was ich dabei fotografieren werde? Das weiß ich genauso wenig wie die anderen 99 Teilnehmer. Vor Wochen habe ich mir meinen Startplatz gesichert. Ich möchte die Stadt, in der ich auf den Tag genau seit 20 Jahren lebe, neu für mich entdecken. Sie mit anderen Augen sehen. Sehen, was andere nicht sehen. 

Als am Samstag der Wecker klingelt, bin ich erstaunlich schnell auf den Beinen. Das ist noch nicht mal unter der Woche üblich, geschweige denn am Wochenende. Aber jetzt gilt‘s. Fotoausrüstung noch schnell gecheckt, eine Flasche Wasser in den Rucksack gestopft und ab zum Zollamt. Dort ist um 9 Uhr früh Treffpunkt und Startnummervergabe für die Teilnehmer. Von Profiausrüstung mit teuren Spiegelreflex-Kameras bis hin zum Smartphone ist alles da. Die Anspannung und Vorfreude ist bei allen groß. Pünktlich um 10 Uhr bekommt den ersten der insgesamt vier Laufzettel mit den Aufgaben in die Hand gedrückt. Das alles beherrschende Thema der Bilder soll »Ich sehe was, was du nicht siehst« lauten. »Yeah!«, jubele ich spontan. »Das passt ja perfekt!« Dazu werden über den Tag verteilt zwölf Aufgaben gestellt, die man am Schluss in der exakten Reihenfolge auf seiner Speicherkarte haben muss. »Um die Ecke denken«, geben die Organisatoren noch einen letzten Tipp mit auf den Weg und bewaffnet mit einem Stadtplan machen wir uns auf denselbigen.

Die erste Aufgabe lautet »...das macht Spaß«, dabei muss die Startnummer »kreativ ins Bild eingearbeitet sein«. Wir sind in unmittelbarer Nähe zum Wasen, da gibt es jede Menge Spaß. Doch das ist mir zu offensichtlich. Ich überlege, was mir Spaß bereitet. Die Antwort ist schnell gefunden: der VfB. Gut, vielleicht nicht immer. Aber doch immer öfter. Und vom Zollamt zum Stadion ist es auch nur ein Katzensprung. Also noch kurz den Kumpel, der sich mit mir auf die Reise macht, bequatschen und ab zum Stadion. Jetzt nur noch die 54 – meine Startnummer – dort finden. 54! Da war doch was! 1954! VfB Stuttgart war Pokalsieger... Das erste Bild – ein Foto der Siegermannschaft – ist im Kasten. »Also wenn das nicht kreativ ist«, denke ich mir und bin spontan euphorisiert. Fängt schon mal gut an. Weiter geht‘s.

Die nächsten Aufgaben lauten »...das ist schief gewickelt« und »...das ist wie Urlaub«. Das Hirn arbeitet wie die Arbeiter in der Daimler-Gießerei.  »Schief gewickelt...« Ich laufe an Kabeltrommeln vorbei, an dem Mann mit den Luftballons auf dem Wasen, an Dirndln – doch irgendwie spricht mich das alles nicht so recht an. »Um die Ecke denken« klingt noch in meinen Ohren. Und Zeit ist ja noch massig vorhanden. Schließlich habe man ja bis 13 Uhr Zeit, sich den nächsten Zettel abzuholen. Also weiter grübeln, ausprobieren, verwerfen, wieder neu überlegen. Letztendlich sind auch diese beiden Bilder im Kasten. Derweil schlendern wir zu zweit gemütlich durch den Regen und den Rosensteinpark zum nächsten Ausgabepunkt an der Löwentorbrücke, treffen dabei andere Teilnehmer, tauschen und kurz mit diesen aus. Die Stimmung ist locker und gelöst. Ein Team von dem Organisationskomitee kreuzt den Weg. Sie sagen, dass ein Teilnehmer schon alle Checkpoints durch hat. »War er mit einem Hubschrauber unterwegs?«, denke ich mir noch. Gucke auf die Uhr. Es ist ca. 12 Uhr. Noch genug Zeit. Denke ich. Noch.

Den zweiten Zettel in der Hand, steigt plötzlich der Puls. Nächste Station ist die Feuerwache im Stuttgarter Süden. Zeitansatz: bis 14 Uhr. Das sind anderthalb Stunden! Wie zur Hölle, sollen wir das schaffen?! Mein Begleiter hat noch nicht mal sein Urlaubsbild und schon warten mit »...das ist voll daneben«, »...das ist symmetrisch«, »...das ist unbezahlbar« und »...das ist typisch Stuttgart« die nächsten vier Aufgaben. Wir beschließen zum ersten Mal auf die Möglichkeiten der öffentlichen Personenbeförderung zurückzugreifen – für eine Haltestelle. An der Stadtbibliothek suchen auch andere nach passenden Motiven. Ich tippe mal auf Symmetrie. Es geht im Stechschritt gen Süden. Dort angekommen, ändern wir unsere Taktik und verfluchen den Mann mit dem Hubschrauber. Jetzt gilt es, erstmal alle Aufgaben einzusammeln und dann die Fotos zu machen.

Es sind Aufgaben wie »...das ist Kunst. – Oder kann das weg?«, »...das ist gesichtslos«, »...das ist würzig«, »...das ist schwarz und weiß« oder die finale Aufgabe »...das bin ich«, man auf die Kamera bringen muss, bis Punkt 16 Uhr. Ideen habe ich viele. Nur die Zeit, diese umzusetzen fehlt. »Das nächste Mal bin ich schlauer.« Ich schätze das hat mindestens die Hälfte aller Teilnehmer auch gedacht.

Mein letztes Bild entsteht um 15:58 Uhr. Und was bleibt, ist ein Tag, der mich vor neue Herausforderungen gestellt, der mir die Sicht auf die Dinge erweitert und neue Bekanntschaften eingebracht hat. Unterm Strich steht jede Menge Spaß. Nächstes Jahr gerne wieder. Und ob ich eine Chance auf die ersten Plätze habe? Nein. Aber darum ging es auch nicht. Bei einem Marathon zählt eh nur das Ankommen.


So, und hier sind meine gesammelten 12 Werke

...das macht Spaß

„Was mir Spaß macht? Klar. Fußball! VfB! Und Startnummer? 54! Da war doch was. Pokalsieg 1954. Also auf zum Stadion...“
 


...das ist schief gewickelt

„Um die Ecke denken, lautete die Aufforderung der Marathon-Macher. Also denke ich mal um die Ecke. Das dachte sich wohl auch die Rose, als sie sich in einen benutzten Plastikbecher 'gewickelt' hat.“
 


...das ist wie Urlaub

„Urlaub? Bin doch erst seit gestern zurück... Aber gut, Stuttgart ist auch Urlaub. Natur, Wasser, das Partyfloß – und alle so 'Yeah!'“
 


...das ist voll daneben

„Schon mal versucht, mit einem leeren Akku zu telefonieren? Also früher ging das noch. Heute kaum noch. Und das ist voll daneben!“
 


...das ist symmetrisch

„Was ist in der Stadt symmetrisch und nicht die Stadtbibliothek? Da habe ich mich für die Brücke im Bankenviertel entschieden. Die ist schön gelb und trotzdem wird sie wohl nur von den wenigsten Menschen gesehen, geschweige denn beachtet.“
 


...das ist unbezahlbar

„An diesem Tag, bei diesem Wetter war ein bisschen Sonnenschein tatsächlich unbezahlbar. Vom Rest des Jahres will ich gar nicht reden...“
 


...das ist typisch Stuttgart

„Was ist 'typisch Stuttgart'? Schlossplatz? Fernsehturm? Bahnhof? S21? Für mich ist 'typisch Stuttgart', dass ich die Stadt liebe. Diese Liebe wollte ich auf ein Foto bannen. Und ich hatte großes Glück, dieses Pärchen gesehen zu haben. Danke nochmals :)“
 


...das ist Kunst. – Oder kann das weg?
 
„Stuttgart ist voll von Kunst, die schon so fest zum Stadtbild gehört, dass sie von kaum jemandem wahrgenommen wird – und auch eigentlich weg kann. Oder? So wie die Mobile-Skulptur von Alexander Calder auf dem Schlossplatz. Dass der Künstler den gleichen Namen trägt wie ich, und dass dieser dann auch noch auf dem Kunstmuseum klebt, ist natürlich purer Zufall. Oder?“

 


...das ist gesichtslos

„Stuttgart. Schlossplatz. Freitreppe. Der Hot-Spot in der Stadt, bei dem es sich alles um „Sehen und Gesehenwerden“ dreht. Da kann ein älterer Herr schnell mal 'gesichtslos' und nicht gesehen werden.“
 


...das ist würzig

„Der Zitronenpfeffer, der sich auf Stuttgarts Pflastersteine ergießt, ist wirklich würzig. Ich hab's probiert. Und gesehen hat es auch keiner :)“
 


...das ist schwarz und weiß

„Schwarz und weiß, Männer und Frauen – mehr Gegensätze gibt es nicht. Und doch sind sie hier alle schön beisammen.“
 


...das bin ich

"..."


Freitag, 26. April 2013

Killswitch Engage und Sylosis live

Diesmal etwas Anderes, weniger text- dafür umso bildlastiger. Ich war vor Kurzem auf einem Konzert von "Killswitch Engage" und "Sylosis". Sie touren gerade immer noch durch Europa. Und so oder so ungefähr war's: Text zuerst, Fotos (alle © ich)


Es war ohne Zweifel das wohl härteste Konzert des Monats in Stuttgart und der Region. »Killswitch Engage«, die Metalcore-Band aus den USA, hat am 9. April buchstäblich Kleinholz aus dem Stuttgarter LKA gemacht. Weder auf noch vor der Bühne gab es kein Halten. Die Energie, mit der die Band seit 1999 über die Bühnen der Welt fegt, sprang vom ersten Song an auf die Fans über, was in einem großen Circle-Pit endete. Und das war erst der Anfang. Ohne Handbremse ging es so die nächsten anderthalb Stunden. Songs aus allen Epochen der Band, mit einem leichten Übergewicht auf dem aktuellen Silberling "Disarm the Descent", fanden den Weg in die Set. Viele eingefleischte Fans brachte es auch schier zur Extase, dass die ganz alten Songs keineswegs unter den Tisch fallen gelassen wurden. Im Gegenteil. Ein wahres Fest für den neuen alten Frontman und Shouter Jesse Leach. Um ihn an diesem Abend aufzuhalten, hätte es schon einer Sondereingreiftruppe bedurft. Da von KSK noch von GSG9 weit und breit keine Spur war, durfte er und seine Kollegen so richtig austoben. Zur großen Freude derer vor der Bühne. Und Stehvermögen, so viel wurde an diesem Abend klar, haben die KSE-Fans allemal. Denn bereits bei der Vorband »Sylosis«, die einen hervorragenden Job hinlegten, war die Stimmung dem Siedepunkt nahe. Abkühlung gab es erst nach dem Konzert auf dem Weg zum Auto.











"Siegertypen" aus Tübingen

»Es bleibt kein Auge trocken und keine Gehirnzelle unangetastet«, urteilte die Jury und verlieh dem Tübinger Comedy-Duo am 11. April in Karlsruhe den Kleinkunstpreis Baden-Württemberg 2013. Ein überraschender Erfolg für Harry Kienzler und Jakob Nacken. Und doch ist er nur der Anfang. Denn die »Siegertypen«, wie sich die beiden auf der Bühne nennen, haben jetzt Rückenwind bekommen.

Wie schnell und überraschend alles plötzlich gehen kann... Als irgendwann im Februar der Anruf seiner Freundin Jakob Nacken erreichte, rechnete er mit allem, nur nicht damit, dass seine Freundin ihm verkündet, dass er mit seinem Bühnenpartner Harald »Harry« Kienzler soeben den Kleinkunstpreis Baden-Württemberg 2013 gewonnen habe. Diese hat es von der Nachricht auf dem Anrufbeantworter erfahren. »Natürlich war das völlig überraschend«, erinnert sich das Duo. Denn dass sie vor nicht allzu langer Zeit ein Bewerbungsvideo für den Preis eingereicht hatten, hatten sie gar nicht mehr auf dem Schirm. Umso erfreuter kam dann auch die Nachricht vom Gewinn.
»Die Prüfungskommision hat wohl irgendwann inkognito einen unserer Auftritte besucht«, sagt Harry Kienzler. Und das, was sie dort gesehen haben, muss ihnen gefallen haben. Denn als »Siegertypen« machen Jakob Nacken und Harry Kienzler keine Comedy »von der Stange«. Sie verflechten gekonnt Poesie, Lyrik und Sprachgewandtheit mit einer gehörigen Portion Humor. Eine Kombination, die man nicht häufig auf deutschen Kleinkunstbühnen sieht und die es noch zu entdecken gilt. Denn schnell findet sich das Duo in einer Schublade wieder. »Wir wollen natürlich jedes Publikum ansprechen«, so Kienzler, »aber wir landen dann doch immer wieder bei ‘anspruchsvollen‘ Sachen.« In der intellektuellen Ecke sind sie zu Hause. Ihre Stärke und Qualität in den Texten zeichnet die beiden 34-Jährigen aus. Sie ist ein Markenzeichen, macht ihre Comedy besonders. »Wenn wir normale Comedy machen würden«, so Nacken, »wären wir wahrscheinlich ziemlich schlecht.« Und doch, sind sie überzeugt, sind ihre Nummern nicht nur für Germanistik­studenten geeignet. »Alleine schon deswegen, weil Germanistikstudenten meistens nicht genug Geld haben, damit wir über die Runden kommen«, lacht Nacken.
Diese Art von Comedy war nur der logische Schritt für die beiden gewesen. Ihre Wurzeln haben sie in der Poetry-Slam-Szene. Dort haben sich der aus Köln stammende Nacken und der Stuttgarter Kienzler während ihrer Studienzeit in Tübingen kennengelernt, haben sich 2006 als Duo formiert, auf Anhieb den Vize-Titel bei den Deutschen Poetry-Slam-Meisterschaften geholt. Dort sind sie auch weiterhin aktiv. Nur ist im Laufe der Zeit die Idee gewachsen, aus dem, was sie bislang für ihre Slams geschrieben haben, ein Abendprogramm zu machen. Mit Dietlinde Ellsässer haben sie eine Regisseurin gefunden, die seit vielen Jahren die regionale Comedy- und Kabarett-Szene geprägt und mit Jakob Nacken als »Die Landpomeranze« bereits ein gemeinsames Bühnenprogramm hat. Trotz unzähliger Auftritte auf der Bühne musste das Duo lernen, dass ein abendfüllendes Comedy-Programm etwas ganz anderes ist als Poetry Slam, bei dem man meistens fünf Minuten hat, um das Publikum für sich zu gewinnen. »Das macht man natürlich mit einer ganz anderen Energiedichte«, berichtet Nacken. »Wenn wir mit dieser Energie den ganzen Abend gestalten, dann kriegen irgendwann alle einen Vogel.« Sie mussten lernen, sich an die Gegebenheiten und das Publikum anzupassen. Und der Lernprozess ist noch lange nicht vorbei. So sagen sie, müssen sie die Kontraste, die Reibepunkte zwischen den beiden Figuren auf der Bühne, zwischen Harry und Jakob, noch besser herausarbeiten. Schließlich könne man sich auf der Bühne Sachen trauen, die man sich sonst im Privaten nicht traut. Und es hat noch einen weiteren positiven Nebeneffekt: Durch das Kreative auf der Bühne werde man mutiger und selbstbewusster. So kann man sicher davon ausgehen, dass mit dem Selbstbewusstsein eines Preisträgers des Kleinkunstpreises Baden-Württemberg in Zukunft noch einiges von den »Siegertypen« zu hören sein wird. Das wäre dann allerdings keine Überraschung mehr.

Mehr zu den beiden auf http://harry-und-jakob.de

Donnerstag, 4. April 2013

Mit "Dodokay" in die Achtziger

Man kennt ihn als Schwaben-Synchronisator »Dodokay«, das Internet und das Fernsehen sind sein Metier. Doch Dominik Kuhn ist mehr als das. Er ist Regisseur, Tontechniker, Produzent und, und, und ... und er ist Musiker. Sein Projekt »Welcome To The Pleasuredome« lebt den Geist und die Musik der 80er-Jahre und feiert im April sein Comeback am 30. April auf dem Reutlinger Marktplatz. Ich traf Kuhn in seinem Studio und sprach mit ihm über die Achtziger, bombastische Shows und ausgebrannte Seelen.

Was ist an den 80er-Songs so toll?
Ich bin ein Kind der 80er und bin mit der Musik groß geworden, von der es eine ganze Bandbreite gibt. Die meisten Bands, die 80er-Musik spielen, fahren entweder die Rock-Schiene mit Bon Jovi oder Van Halen. Oder sie stehen auf der Soul-Seite wie Sister Sledge oder Kool and the Gang. Kein Mensch spielt Tears for Fears, Depeche Mode, Frankie Goes To Hollywood, Madonna oder Michael Jackson. Und wenn es doch jemand macht, kocht man das in der Regel auf eine 5-Mann-Combo runter. Dann klingt es aber scheiße – finde ich. Ich wollte dagegen eigentlich schon immer eine Band machen, die diesen besonderen Pop live spielt, gemeinsam mit ganz besonderen Musikern.

Welche persönliche Beziehung hast du zu dem Jahrzehnt?

Das war meine Disco-Jugend und es ist noch vieles davon präsent. Was ich allerdings nicht habe, ist so eine verklärte Nostalgie. Wenn ich Frankie Goes To Hollywood höre, finde ich das immer noch geil – in musikalischem Kontext. Ich bin kein Retro-Mukke-Typ. Ich höre moderne Musik von ... bis .... Wenn ich mir Mixtapes mache, dann gibt es dort alles von Rammstein bis Jazz. Auch die Idee zu der Band heute fällt schon in die 80er. Es muss 1988 oder 1989 gewesen sein. Ich habe damals beim Radio als Musikredakteur gearbeitet und sie haben mich auf ein Rick-Astley-Konzert in die Stuttgarter Liederhalle geschickt. Ganz ehrlich, ich habe erwartet, dass das gruselig wird. Als dann aber der Vorhang fiel, kam die große Überraschung: Eine zwölfköpfige Band stand auf der Bühne, mit Bläsern, Backing-Chor, Keyboarder, zwei Gitarristen – und sie haben diesen Rick Astley-Plastik-Sound live sehr fett gespielt! Das Konzert war großartig und hat mir die Augen geöffnet, denn dieser Pop klingt, wenn er live entsprechend performt wird, richtig geil. Das war die Initialzündung für die Band von heute, auch wenn ich damals natürlich nicht vorhatte, eine 80er-Cover-Band zu machen. Doch auch wenn ich in all den Jahren ganz viele andere Sachen gemacht habe, habe ich den Plan für dieses Bandprojekt nie aus den Augen verloren. Bevor es mit der Band losging, habe ich allerdings jahrelang am Sound getüftelt. Gerade bei Trevor-Horn-Produktionen (Frankie Goes To Hollywood). Er hat Sounds, da weiß kein Mensch, wo die herkommen. Und ich habe mir den Kopf zerbrochen, was das sein könnte – und das meiste habe ich tatsächlich herausgefunden.

Damals in den 80er-Jahren gab es zwei große Jugendbewegungen: Rocker und Popper. In welcher warst du zu Hause?
Nirgends, ich war schon immer ein komischer Typ. (lacht) Aber wenn, dann würde ich mich eher zu den Poppern zählen, wenn auch nie so richtig. Discomäßig war ich eher im Black Mustang in Reutlingen als in der Rockfabrik in Ludwisgburg. Aber ich bin kein Cliquen-Typ und eigentlich schon immer eher ein Einzelgänger. Außerdem war ich immer einer, der lieber selber was macht, anstatt nur zu konsumieren. Darum habe ich auch viel als DJ gearbeitet und bin dann privat eher weniger in die Discos.

Einen ganz bestimmten Musikgeschmack hattest du demnach nicht? Spiegelt sich das in der Musikauswahl von »Welcome To The Pleasuredome« wider?
Ja, eigentlich schon. Ich habe zwar ganz großkotzig behauptet, wir spielen nur 80er-Popmusik und keinen Rock. Aber das stimmt nicht. Wir spielen auch was von Billy Idol, »Never let me down« von Depeche Mode haben wir ein ziemlich rockiges Gewand verpasst, und wir haben sowieso zwei Gitarristen dabei. Aber keine Sorge, wir spielen auch ein Stück von Rick Astley. Das musste einfach sein. (lacht)

Die Band umfasst zehn Mitglieder, die Show verspricht »Blitz und Donner« – warum der große Aufwand?
Erstens: Es ist eine persönliche Geschichte. Ich komme aus der Show-Produktion, war früher in der Veranstaltungsbranche überall in der Welt unterwegs, habe ganz große Shows gesehen und habe jetzt einfach Bock, selber mal was auf der musikalischen Kreativseite zu machen. Und wenn wir was machen, dann probieren wir es in groß. Ich muss auch anmerken, dass die Produktion der Show verdammt viel Geld kostet. Der Eintrittspreis in Reutlingen von 29,50 Euro reicht nicht, um die Kosten zu denken. Daher mache ich dieses Heimspiel erstmal mehr aus persönlichem Enthusiasmus, und natürlich filmen wir auch mit, damit wir Promomaterial haben, um dann vielleicht mal über eine Tour reden zu können. Die zweite Motivation für den Riesen-Akt ist mindestens genauso wichtig: Die Songs, die wir uns ausgesucht haben, klingt nur authentisch, wenn man denselben Aufwand betreibt wie die Original-Acts damals. Dafür braucht man entsprechend viele Musiker und viel Technik. Das ist übrigens ein ganz wichtiger Grund, warum es sonst kaum jemanden gibt, der das so spielt.

Du hast bereits erwähnt, dass die Idee zum Projekt ganz alt ist. 2004 fingen damals die Vorproduktionen an, 2007 hat das Projekt erstmals die Bühne betreten. Warum wurde es dann ruhiger?
Wie die meisten wissen, mache ich als »Dodokay« schwäbische Synchros. Die habe ich 2005 angefangen, und Ende 2006 ging es erfolgsmäßig dann richtig los. Dabei waren die Synchros nie als mein großer Hit geplant. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass von dem ganzen Zeug, das ich mache, ausgerechnet die Synchros durchstarten, hätte ich wohl nur mit dem Kopf geschüttelt. »Welcome To The Pleasuredome« hatte im Mai 2007 Premiere und erst im August hatte ich dann meinen bis dato größten Schwaben-Synchro-Hit, den Todesstern-Film. Kein Mensch hat damit gerechnet und plötzlich ging mit der schwäbischen Comedy voll die Post ab und für andere Projekte war kaum noch Zeit. Für die Band war das fatal, denn aufgrund der Größe hätte man das nicht ein bisschen nebenher machen können. Also ist das Projekt eingeschlafen.

Wie und warum wurde es wieder erweckt?
Ich habe in der ganzen Comedy-Zeit gemerkt, dass sich das Projekt immer noch da oben auf meiner Festplatte im Kopf dreht. Das war nie weg. So groß angefangen, so viel Asche in die Hand genommen, so ein großer Akt – das hat mich nie in Ruhe gelassen. Und jetzt habe ich mir gesagt, dass wir entweder noch weitere fünf Jahre rumquatschen können oder wir spielen jetzt einfach mal wieder. Im vergangenen November haben wir also einen Punkt gemacht und gesagt, dass es weiter geht. Meine anderen Projekte stehen jetzt eben erstmal auf »hold«. Wie fühlt es sich an, dass es wieder losgeht? Es ist eher so ein Fifty-Fifty-Ding. Musikalisch und inhaltlich macht mir das unheimlich viel Spaß. Da aber die Produktion so groß und so teuer ist, gibt es auch kaum Veranstalter, die das Ding für mich in die Hand nehmen und einfach mal produzieren. Das heißt, ich musste jetzt mein ganzes Skill-Set, was ich in den letzten 25 Jahren gelernt habe, auspacken. Ich bin derzeit die technische Leitung, die Produktionsleitung, Co-Veranstalter, künstlerischer Direktor und stehe auch noch bisschen auf der Bühne. Anders kriege ich dieses Riesending nicht hin. Aber ich will nicht jammern, es macht Spaß.

Haben die anderen Bandkollegen auch schon lange auf den Tag hingefiebert, wenn es mit dem »Pleasuredome« weitergeht?
Ja, immer, wobei wir jetzt zum Teil eine andere Besetzung haben. Einige konnten nicht mehr, andere haben sich anders entschieden. Aber der harte Kern der Band ist noch da und hat tatsächlich ständig gefragt, wann es denn endlich weitergehe – zu Recht.

Du hast eingangs erwähnt, dass ihr keine typische Oldie-Band seid. Mit welchem Publikum rechnest du beim Konzert?
Ich denke, unsere Hauptzielgruppe ist 30-Plus. Aber ich sehe jetzt schon am Vorverkauf, dass das Publikum vom Alter her eine große Bandbreite darstellen wird. Wir haben ja auch Leute in der Band, die in den 80ern noch gar nicht auf der Welt waren. Und sie alle haben tierisch Bock auf die Musik.

Geschwäbelt wird aber nicht?
Nein! Ich verstehe ja, wenn alle sagen »Des isch dem Dodokay sei Band«. Stimmt schon irgendwie. Aber »Dodokay« gab es noch gar nicht, als es die Band schon gab. Jetzt heißt es natürlich, aha, der Typ mit den Schwabensynchros macht auf einmal Musik. So ist das aber nicht. Beispiel: Als »Dodokay« habe ich auf Facebook rund 16.000 Fans. Wenn ich da auf die Pinnwand schreibe »I breng grad d‘ Mülleimer naus«, drücken 300 Leute auf »gefällt mir« und es kommen 50 Kommentare. Wenn ich aber schreibe »Ich spiele mit meiner 80er-Cover-Band auf dem Marktplatz«, kom- men fünf Daumen hoch und drei Kommentare. Das ist heute einfach so. Die Schwaben-Dodokay-Fans interessieren sich null für irgendwas anderes, was ich mache. Ich finde es natürlich toll, wenn meine Fans wegen mir zu der Band kommen. Aber ich sage gleich: Es wird nicht geschwäbelt.

Wie sieht es mit deinen weiteren Projekten aus, was ist alles in der Pipeline?
Also erst mal bleibt »Welcome To The Pleasuredome« hoffentlich keine einmalige Sache. Wenn die gigantische Vorproduktion weg ist, ist es in erster Linie eine Band, die zu einem Gig rausfahren kann. Das heißt, wenn »Pleasuredome« dann nebenbei läuft, habe ich wieder Zeit für meine weiteren Projekte. Es wird natürlich wieder Schwäbisch-Synchros geben, auch auf Youtube. Aber dazu muss ich erstmal paar rechtliche Sachen regeln, da sich auf diesen Online-Plattformen viel geändert hat. Und dann steht eigentlich seit über drei Jahren eine Dodokay-Live-Bühneshow auf dem Zettel. Ich habe auch schon einen Veranstalter, der mich ständig löchert, wann es denn endlich losgehe. Wahrscheinlich wird es 2014 werden, bis die Show auf der Bühne ist. Und das dritte wichtige Projekt ist ein Spielfilm, den ich als Regisseur drehe. Ich sehe mich hauptsächlich als Filmer und es wird einfach Zeit, dass ich mal was Eigenes drehe. Und natürlich, weil man es von mir erwartet, wird es eine schwäbische Komödie.

Klingt wieder nach jeder Menge Arbeit. Vor drei Jahren ist dir die Arbeit über den Kopf gewachsen und du hast den Stecker gezogen, hast dich zurückgezogen. Besteht diese Gefahr nicht mehr?
Vor drei Jahren war es tatsächlich so, dass ich viel zu viel Zeug gemacht und überhaupt nicht mehr darüber nachgedacht habe, was ich da eigentllich treibe. Ich hatte meinen normalen Job als Werbefilmer, dann kam Dodokay dazu, Pleasuredome war immer aktuell und auf einmal war es zu viel ... Damals habe ich vor allem einen Fehler gemacht: Ich habe die Leute bedient, ohne nachzudenken. Wenn jemand angerufen und angefragt hat, dann habe ich zugesagt. Ich habe überhaupt nicht gefiltert. Dann hat mir die Seele irgendwann Warnzeichen geschickt und gesagt, ich solle mal langsam machen. Daraus habe ich viel gelernt, und obwohl ich jetzt wieder sehr sehr viel mache, kann mich auch einschränken, Pausen machen. Darum ist momentan auch »Pleasuredome« meine Nummer eins und der Rest kommt danach wieder.

Mittwoch, 3. April 2013

Muskeln unter Strom

EMS – das steht für »Elektrische Muskel-Stimulation« und ist ein neuer Trend im schnelllebigen Fitness-Universum. Dabei werden die Muskeln über Stromimpulse zur Anspannung gebracht. Das Ergebnis: effektives Krafttraining ohne Gewichte. Wie das genau funktioniert, ob es wehtut und wie sinnvoll das EMS Training überhaupt ist, das hat MORITZ-Redakteur Alexander Steinle in einem Selbstversuch herauszufinden versucht.

»Du machst was?« – diese Frage begleitete mich ständig, wenn ich das Thema der Gespräche im Freundeskreis auf EMS Training lenkte. Die einen wussten nicht, was EMS Training ist, die anderen dafür umso mehr. »Ja, ich lasse mir Strom durch die Muskeln jagen.« – »Warum?« – »Gute Frage...« Die Antwort finde ich heraus.
Lars Rometsch, der mit dem Sportsroom ein kleines EMS-Studio in Stuttgart-Weilimdorf betreibt, nimmt mich unter seine Fittiche und führt mich in die Welt des EMS Trainings ein. »EMS«, erklärt er, »steht für Elektrische Muskel-Stimulation.« Über Stromimpulse werden Muskeln zur Anspannung gebracht und man simuliert sozusagen das herkömmliche Krafttraining. Nur spart man sich dabei die Gewichte. Denn je nach Stromspannung und der dadurch resultierenden Anspannung wird den Muskeln suggeriert, sie müssten etwas Schweres heben. Die Kraft kommt aus der Steckdose.
Eine Frage spukt mir schon die ganze Zeit vor dem Selbstversuch im Kopf herum: Tut das weh? »Es kann wehtun«, der Trainer versucht gar nicht erst, mich zu beruhigen. Auf jeden Fall spüre man den Strom ganz deutlich. Das seien aber keine Schmerzen, wie man sie sonst kenne, es ist einfach eine starke Anspannung. Kurz übermannen mich Zweifel. Soll ich das wirklich machen? Ach, was soll’s, ich bin nicht der Erste und auch nicht der Letzte. Und überlebt haben bislang alle. Glaube ich…
Bevor es losgeht, muss ich noch eine Erklärung unterschreiben, in der ich versichere, keine akuten Erkrankungen und keinen Herzschrittmacher zu haben sowie nicht schwanger zu sein. Denn auch wenn EMS Training für fast alle geeignet ist – vom Freizeitsportler bis zum Profi, vom Jugendlichen bis ins hohe Alter – ein paar Sachen muss man beachten. Die Unterschrift ist trocken, jetzt gibt es kein Zurück mehr! »Wie groß ist in der Regel dein Schmerzempfinden?«, werde ich noch gefragt. »Kommt ganz auf die Art des Schmerzes an«, antworte ich und versuche möglichst cool zu wirken. Mein Gegenüber lächelt. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Egal, es ist zu spät.
Zunächst heißt es raus aus den Klamotten und rein in schwarze Baumwoll-Funktionswäsche. Darüber kommt der eigentliche Anzug mit Elektroden. Jeweils zwei befinden sich am Gesäß, am Bauch und an der Brust. Um die Oberschenkel und um die Oberarme kommen Extragurte. Alles sitzt ganz eng am Körper, ich fühle mich leicht eingeschnürrt. »Man fühlt sich doch gleich irgendwie besser, schlanker, oder?«, fragt mich Rometsch. "Ja, genau, oder wie eine Presswurst", denke ich noch. Doch hier geht es nicht ums Aussehen, hier geht es ums Überleben. Einen letzten Sicherheitshinweis gibt es noch: »Bei 40-50 Prozent der Menschen kann es vorkommen, dass sie bei der ersten Spannung Atemschwierigkeiten bekommen. Sobald du etwas Unangenehmes spürst, bitte gleich Bescheid geben. Ich stelle dann das Signal um.« Ich bin völlig entspannt...
Über jede Elektrode kann man individuell die Spannung in den jeweiligen Muskelgruppen steuern. Ist die Grundspannung eingestellt, wird es spannend. Vorsichtig wird der große Drehknopf an dem EMS-Gerät – dieses stammt von »Amplitrain« und arbeitet anders als andere auf dem Markt mit einer Mittelfrequenz, die tief in den Muskel vordringen soll – nach rechts gedreht. Ich spüre anfangs ein leichtes Kribbeln in den Muskeln. Ein Gefühl, wie man es von eingeschlafenen Gliedmaßen kennt. Alles halb so wild bislang. Die viel zu vielen Gedanken und Sorgen im Vorfeld waren unbegründet. Denke ich. Noch.
Oha! Das Signal wird stärker, die Spannung in den Muskeln größer. Die vermeintlich einfache Aufgabe für mich: Wenn die Spannung steigt, mit der Muskelkraft dagegen ankämpfen. Wenn die Spannung wieder etwas nachlässt, die Muskeln kurz lockern. Das ist schon mal kein Problem. Ich sehe wohl noch zu entspannt aus, denn kaum habe ich mich an den Strom gewöhnt, dreht der Fitnesstrainer den Drehknopf weiter nach rechts.
Okay, langsam verstehe ich, warum er mich nach meiner Toleranzgrenze bei Schmerzen gefragt hat. Die Elektroimpulse sind jetzt ganz deutlich zu spüren und ich kann nicht behaupten, dass sie schön angenehm sind. Die Anspannung bringt mich immer wieder aus der Grundstellung, immer wieder wird meine Haltung korrigiert: Rücken gerade, Schultern nach hinten, Arme im rechten Winkel und anspannen. Schmerzhaft ist es jedoch nicht. Es ist anstrengend. Nur an einer Stelle wird es langsam unangenehm, am Beckenboden. Dafür sorgen die beiden Elektroden auf den Oberschenkeln. »Das kommt bei Männern öfter vor, Frauen kennen sich da besser aus«, werde ich beruhigt und die Spannung wird ein wenig runtergedreht.
Ungefähr die Hälfte des 20-minütigen Trainingsprogramms ist vorbei, die ersten Schweißtropfen laufen über die Stirn, die Eingewöhnungsphase an den Strom habe ich gemeistert. Jetzt ist es an der Zeit, ein paar »echte« Übungen zu machen. Als erstes auf dem Plan: Bankdrücken, im Stehen, ohne eine Bank. Als der Impuls in den Muskeln ankommt, soll ich meine Arme langsam nach vorne strecken und dann wieder zurück. Die Muskeln fühlen sich an, als würde man gerade seinen 30. Liegestütz am Stück machen. Hobbysportler sagen dazu »die Muskeln brennen«. Und gleich noch einmal. Als Nächstes sind die Beine dran: Kniebeugen. Und auch bei diesen hat man das Gefühl, dass man einiges an Gewicht zugelegt hat. »Training für Faule«, wie einige glauben, ist EMS sicherlich nicht.
In der Regel lassen sich alle möglichen Übungen mit einem EMS-Gerät verbinden. Kraft, Koordination, Ausdauer – die Möglichkeiten sowie die Einsatzgebiete sind unterschiedlich. »Es sind grundsätzlich alle Übungen mit EMS möglich«, bestätigt Rometsch. Nur auf ein Laufband lasse er Menschen eigentlich ungerne. »Wenn sie laufen wollen, sollen sie das an der frischen Luft tun.«
A propos Luft, die habe ich noch, nur die Kräfte schwinden so langsam. Sehnsüchtig beobachte ich den Countdown auf dem Display. Nur noch ein bisschen, dann habe ich es geschafft. Was mich verwundert: Obwohl das Training relativ anstrengend ist, hatte ich erwartet, dass ich mehr schwitzen würde. Naja, vielleicht wurde ich als Anfänger ja noch geschont.
Als die 20 Minuten rum sind und der Strom weg ist, kann ich raus aus dem Anzug. Beim Umziehen merke ich, dass es in den Brustmuskeln schon ein wenig zieht. Tatsächlich ist auch das EMS Training kein Garant gegen Muskelkater. Aber aufgrund der kurzen und doch so intensiven Belastung soll er nicht so schlimm ausfallen. »Klassisches Krafttraining in dieser Intensität und du würdest dich die nächsten drei Tage nicht bewegen können«, sagt Rometsch. Ich glaube ihm das mal und bin insgeheim froh, dass es nur in der Brust zieht.
Alles in einem ist das EMS Training sicherlich eine gute Gelegenheit für Menschen mit Zeitproblemen, den Weg zum Sport zu finden. Denn 20 Minuten Trainingszeit lassen sich auch im stressigsten Alltag unterbringen. Das ist auch das große Plus dieser Methode. Für ältere Menschen ist es u.a. auch deswegen interessant, weil die Gelenkbelastung relativ gering ist. Für Sportler ist das EMS eine gute Erweiterung zu ihrem üblichen Training. Man kann Defizite gezielt ausgleichen und bei der Stärkung einzelner Muskelpartien relativ schnell Erfolge erzielen. Bei Kosten von bis zu 30 Euro pro Trainingseinheit muss sich aber jeder selber überlegen, ob es ihm das wert ist.

Dienstag, 26. März 2013

Was ist eigentlich "Functional Fitness"???

Die Fitness-Welt treibt immer neue Blüten hervor. Seit einigen Jahren geistert der Begriff »Functional Fitness« durch die Studios. Doch was sich genau dahinter verbirgt, wissen viele nicht. Um das herauszufinden, habe ich mich in ein Trainingscenter begeben und habe einige der typischen Übungen am eigenen Körper ausprobieren dürfen – nicht ohne Folgen...

Hier zieht es, dort brennt es, jede Bewegung tut weh. Was ist mit mir am Vortag bloß geschehen? Autounfall? Zwanzig Mal hintereinander über die Bundeswehr-Hindernis-Bahn? Nein, die Antwort ist viel harmloser – jedenfalls auf den ersten Blick: »Functional Fitness«. Dabei ist es ein relativ schwammiger Begriff. Es gibt keine feste Definition darüber, was zu »Functional Fitness« gehört, und jeder Trainer hat seine eigenen Methoden. Ich bin zu Besuch im Stuttgarter Sportcodex Trainigscenter, deren Macher Zied Lakhdar, Torsten Schmeckenbecher und Robin Müller-Schober, allesamt langjährige Fitness- und Personaltrainer, bieten unter anderem das Sommerprogramm »Sport im Park« an. Letzterer ist es, der mich in das Geheimnis des »Functional Fitness« einführen darf.
»Wir verfolgen mit Functional Fitness folgenden Ansatz«, beginnt er. »Sport an sich und der menschliche Alltag haben alle mit Bewegung zu tun. Und es gibt keine Alltagssituationen, in denen man beispielsweise auf irgend­etwas sitzt und etwas zu sich herzieht oder wegdrückt.« Diese Art von Übungen kennt man von Fitnessstudios. Beim Functional Fitness verfolgt man das Ziel, nicht einzelne Muskelpartien zu fördern, sondern den kompletten Körper zu stabilisieren. »Die richtigen Muskeln müssen im richtigen Moment greifen.« Es geht um Stabilisation, Beweglichkeit und Koordination. So sind auch die Trainingseinheiten systematisch aufgebaut. Los geht es mit dem Aufwärmen.
»Wir messen dem Warm-up eine sehr hohe Wertigkeit bei«, sagt Müller-Schober. Was das bedeutet, darf ich gleich am eigenen Körper erfahren. Ich bekomme eine Rolle aus festem Schaumstoff, nehme auf dem Boden Platz, den Unterschenkel auf die Rolle gelegt. »Und jetzt rollst du mal deinen Unter, dann den Oberschenkel darauf hin und zurück«, kommt die erste Anweisung. Das erste Gefühl ist fremd, und doch irgendwie vertraut. Denn damit passiert nichts anderes mit dem Muskel als bei einer Massage: Er wird »glattgebügelt«. Und tatsächlich spüre ich eine leichte Un­ebenheit in meiner Muskulatur, die nach einigen Malen verschwindet. Das wiederhole ich anschließend mit dem anderen Bein und liege schließlich mit dem Rücken auf der Rolle und rolle mich hin und zurück – eine erstaunlich simple und einfache Art und Weise, sich selber zu massieren. So, die Muskeln müssen jetzt langsam glatt genug sein, Zeit fürs Sportliche.
Koordination heißt dann auch das erste Übungsziel. Vor mir liegt die sogenannte Koordinationsleiter. »Schon mal gesehen?« – »Klar.« Aber nur im Fernsehen oder vom Spielfeldrand beim VfB-Training. Die erste Übung bekomme ich auch sogleich vorgemacht. Drei Schritte in jedes Feld und dann von Feld zu Feld immer weiter. »Sieht leicht aus«, denke ich – noch. Dann darf ich ran. Eins, zwei, drei, weiter. Ein, zwei, drei, weiter. Eins, zwei, drei, vier… Halt! Ist doch nicht so leicht, wie es aussieht. Ohne Konzentration geht da nichts.
In Zirkelform warten andere Übungen darauf, erforscht zu werden. Dabei geht es immer auf Zeit: 40 Sekunden Power, 20 Sekunden Pause. Bei einer dieser Übungen stehen schwere Medizinbälle im Mittelpunkt. Felix Magath lässt grüßen. Diese werfe ich mit voller Kraft gegen die Wand und fange sie wieder auf. Immer und immer wieder. Was bei den ersten drei Mal noch nach großem Spaß aussieht, entpuppt sich schnell als knallhartes Training. Und das nicht nur für die Arme. Der Körper soll dabei möglichst stabil in leichter Hockstellung stehen. Alle Muskeln sind angespannt, um dem zurückprallenden Ball genug Widerstand zu bieten. Die nächsten 40 Sekunden sind rum, Zeit die Station zu wechseln.
Es geht weiter zum kraftraubenden Rope-Workout. Dabei ragen zwei Seile aus der Wand, ich bekomme jeweils ein Ende in die Hände und darf sie jetzt in Schwung bringen. Klingt amüsant, sieht lustig aus, ist mit der Zeit aber die Hölle. »Stärker! Höher!«, höre ich die Motivationsrufe. Würde ich ja gerne. Die Arme wollen aber nicht so, wie ich will.
Auch wenn sich diese Form von Fitness wohl eher an die Menschen richtet, zu deren Sportbetätigungen mehr gehört, als mit der Fernbedienung zwischen Eurosport und Sport1 zu zappen, so ist Functional Fitness doch auch für Anfänger eine wunderbare Möglichkeit, um in ein sportliches Leben einzusteigen. Denn es sind genau diese Anfänger, die bei dieser Art von Training sehr schnell sehr viel mitnehmen und auch in relativ kurzer Zeit große Fortschritte erzielen. »Das Training ist für Anfänger wunderbar geeignet, bedarf aber einer intensiven Betreuung und Beobachtung.«
Diese habe ich und darf auch gleich eines der Lieblingsgeräte des Fitnessprofis kennenlernen: TRX. Von der Decke hängen zwei Seile mit Schlaufen an deren Enden und im Großen und Ganzen war‘s das. Es ist sicherlich eines der simpelsten Sportgeräte, die ich bislang gesehen habe. Und genau deswegen bin ich schwer beeindruckt. Man braucht keine Gewichte, keine komplizierten Programme eingeben. Alles, was man braucht, ist das Gewicht des eigenen Körpers. Mit den Händen in den Schlingen lasse ich mich hängen. »So, jetzt Körper geradehalten, Beine nach vorne – je weiter, desto schwieriger –, und dann versuche dich mit den Armen hochzuziehen«, sagt Müller-Schober. Leichter gesagt als getan, spätestens jetzt verfluche ich die Weihnachtsgans. Und das ist nur eine von zahlreichen Übungen, die mit TRX möglich sind. Als ich einige weitere hinter mich bringe, bin ich danach ziemlich ausgepowert. Ich kann nicht sagen, ob es die Beine sind, die mehr Arbeit geleistet haben, die Arme, die Bauchmuskeln oder der Rücken. Ich spüre einfach alles, und weiß, dass ich spätestens morgen den Beweis dafür in Form von Muskelkater bekommen werde.
Mein Fazit nach der Probestunde: So stelle ich mir Training vor. Blicke ich zurück, kann ich nicht sagen, welchen Muskel ich am wenigsten benutzt habe. Und das in relativ kurzer Zeit. In der Regel dauert eine Trainingseinheit 60 Minuten. Diese Stunde reicht aber auch, um sowohl das Herz-Kreislauf-System als auch den Muskelaufbau sowie die Koordination des Körpers zu stärken. Mit Functional Fitness wird man nicht zum Muskelberg, so viel sollte jedem klar sein. Man wird aber athletischer, fitter, schlanker und stärker. »Ich behaupte, wenn man zehn Einheiten regelmäßig durchzieht, wird man den Unterschied merken, optisch und im eigenen Wohlbefinden«, verspricht mir Müller-Schober und freut sich wohl insgeheim darauf, mich bald weiterzuquälen. Ich aber »genieße«
erstmal den Muskelkater.