Freitag, 22. März 2013

Das Herz von Jenin


Es sind oft die kleinen Zufälle im Leben, die dieses nachhaltig verändern. Beim Tübinger Regisseur Marcus Vetter war es ein Anruf der Filmproduktionsfirma EIKON aus Berlin. Er wurde gefragt, ob er es sich vorstellen könne, einen Film gemeinsam mit einem israelischen Co-Regisseur im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin zu drehen. Entstanden ist daraus ein Dokumentarfilm, der berührt, und eine Lebensaufgabe, der sich der 46-Jährige seit mittlerweile fünf Jahren aufopferungsvoll widmet.

»Ich bin zu dem Thema sprichwörtlich wie die Jungfrau zum Kinde gekommen«, erinnert sich Marcus Vetter, als er gefragt wird, wie man als deutscher Regisseur auf die Idee kommt, einen Dokumentarfilm in Westjordanland zu drehen. Die Produktionsfirma EIKON in Berlin hatte angefragt, ob er es sich vorstellen könne, mit dem israelischen Co-Regisseur Leon Geller einen Dokumentarfilm über einen Palästinenser zu drehen, der sich entschieden hat, die Organe seines von israelischen Soldaten getöteten Sohnes an israelische Kinder zu spenden und dadurch ihre Leben zu retten. »Diese Geschichte hat mich schwer beeindruckt«, sagt der mehrfach prämierte Regisseur.
Angekommen in Israel wurde der Tübinger schnell mit den Problemen im Nahen Osten konfrontiert. Aussagen wie »Ein Film in Jenin – viel zu gefährlich!« oder »Man kann doch keinen Film drehen über jemanden, der aus einer ‚Terroristenstadt‘ kommt«, waren der Tenor bei den israelischen Produktionsfirmen. »Also bin ich mit einem palästinensischen Team hin«, sagt Vetter.
Was er dort angetroffen hat, war alles andere als ein »Terroristennest«, als das Jenin weltweit gilt. Es war eine Stadt, in der es ein ganz unterschiedliches Meinungsspektrum gibt. »Natürlich gibt es die Freiheitskämpfer, die den Weg mit der Waffe wählen«, so der Regisseur. »Aber auch Menschen, die dem abgeschworen haben.« Einer dieser Menschen ist Ismael Khatib, der Hauptprotagonist von »Das Herz von Jenin«.
Sein 11-jähriger Sohn wird 2005 von israelischen Soldaten auf offener Straße erschossen, weil er mit seinen Freunden spielt und eine Holzwaffe in der Hand hat. Ein Pfleger vor Ort spricht den Vater des Jungen, Ismael Khatib, auf die Möglichkeit einer Organspende an. Ismael Khatib und seine Frau Abla stimmen zu, auch als bekannt wird, dass jüdisch-orthodoxe Familien als Empfänger in Betracht kommen. Dadurch rettet er sechs israelischen Kindern das Leben. Zwei Jahre später verspürt Ismael Khatib den Wunsch, die Kinder, deren Leben sein getöteter Sohn gerettet hat, kennenzulernen. Marcus Vetter begleitet ihn bei dieser Reise mit der Kamera und hält zugleich Momente fest, die auf der einen Seite zwar zeigen, wie schwierig die Situation im Nahen Osten ist. Auf der anderen aber, was für tolle Menschen es in Palästina gibt. Dass längst nicht alle Terroristen sind und dass man mit »collective punishment«, mit Rache, mit der Demütigung an den Checkpoints nicht weiterkommt. »Ja«, sagt Vetter, »der Film kritisiert Israel.«
»Natürlich bin auch ich mit vielen Vorurteilen nach Jenin gekommen«, gibt der Tübinger zu. Man habe sich im Vorfeld sein Bild gemacht. »Und das wurde komplett widerlegt!« Wenn man sich »Das Herz von Jenin« anschaut, übrigens Gewinner des Deutschen Filmpreises 2010 als bester Dokumentarfilm, dann ist ein Protagonist netter als der andere. Es gibt einen beduinischen Vater, der lachend in die Kamera erzählt, dass sein Haus jederzeit zerstört werden kann. Es gibt den christlichen Araber, der auf eine so sympathische Art Ismael fragt, ob er die Organe seines Sohnes spenden möchte, dass es einem die Sprach verschlägt. Es gibt die Drusenfamilie, die in den nördlichen Hügeln nahe Libanon lebt und deren Tochter Samah das Herz Ahmeds in sich trägt. »Wenn man sich diese Menschen anschaut, diese Freundlichkeit sieht und selber miterlebt, dann weiß man, dass das nicht gespielt sein kann.«
Auch die anderen Menschen in Palästina haben den Europäer herzlich aufgenommen. Für Vetter kein Wunder. Denn nur so können diese Menschen ihre Geschichten erzählen und hoffen, dass sie gehört werden. »Es passieren einfach viele Ungerechtigkeiten dort«, sagt der 44-Jährige. »Wenn man niemandem davon erzählen kann, dann denkt man, niemand wisse davon.« Dann wäre das Leben kaum zu ertragen. Um den Menschen in Jenin neue Hoffnung zu geben, haben Ismael
Khatib und Marcus Vetter ein neues Projekt ins Leben gerufen – »Cinema Jenin«.
»Ismael und ich haben uns überlegt, dass wir das Engagement nicht mit dem Film ‚Das Herz von Jenin‘ zu Ende gehen lassen wollen«, sagt der Tübinger. Also haben sie beschlossen, das alte Kino in Jenin wieder aufzubauen. Alle 70 Kinos in Palästina wurden mit der ersten Intifada 1987, dem palästinensischen Aufstand gegen Israel, geschlossen. Das erste hat vor rund zehn Jahren in Ramallah wieder aufgemacht. Für Vetter geht es jetzt darum, in Jenin, »an einem Ort, von dem niemand denken würde, dass es dort überhaupt möglich wäre«, ein Kino aufzubauen. »Wir haben gezeigt, dass das Interesse da ist. Dass wir keine Angst haben. Und wir haben rund 300 Volontäre nach Jenin geholt«, sagt der Vater von zwei Kindern.
Inzwischen vergleicht der Tübinger seine Arbeit in Jenin mit der eines Streetworkers. In einem Land, wo sich Kinder gegen Panzer stellen, geht es darum, neue Visionen zu schaffen. »Wir wollen den Jugendlichen ihre Würde zurückgeben.« Kultur, Bühne, Film – all das ist für die meisten dort neu. Doch bietet es ungeahnte Möglichkeiten, sich emo­tional zu befreien. »Wenn die eigenen Eltern kommen und sehen, dass man selber auf der Bühne steht, was man selber geleistet hat, was man aufgebaut hat, welchen Film man gedreht hat, dann kommt der Stolz«, so Vetter. Und mit diesem Stolz der Eltern das Selbstbewusstsein bei den frustrierten Jugendlichen. Rund die Hälfte der Einwohner von Jenin ist 15 Jahre alt und jünger, die Arbeitslosigkeit beträgt ca. 80 Prozent. »Natürlich kommt das Selbstbewusstsein auch, wenn man sich vor einen Panzer stellt. Aber der andere hat die besseren Karten und kann über Leben und Tod entscheiden.«
Am 5. August des vergangenen Jahres eröffnete das Kino endlich seine Pforten. Seitdem geht es Schritt für Schritt voran, Rückschläge inklusive. Jüngst mussten alle Volontäre aus Jenin abgezogen werden. Der Grund: Juliano Mer-Khamis, Direktor des Freiheitstheaters in Jenin, wurde am 4. April in seinem Auto erschossen. Die Täter sind unbekannt. Vetter hat seine eigene Theorie, wer hinter dem Mord steckt: »Palästina hat aktuell die Chance, einen palästinensischen Staat zu bekommen. Und es gibt wohl jemanden, dem das ein Dorn im Auge ist. Also möchte er nach außen zeigen, dass Jenin gefährlich ist, dass in dem Lager jemand umgebracht wurde, der zwar sein Leben für die Palästinenser gegeben hat. Aber dennoch getötet wurde. Er wollte damit etwas zerstören!« Und fügt dann im traurigen Ton hinzu: »Im ersten Schritt ist es ihm gelungen: Wir mussten unsere Volontäre abziehen.«
Doch Vetters Einsatz für Jenin ist noch lange nicht am Ende. Zwanzig mal bestieg er in den vergangenen drei Jahren den Flieger Richtung Nahost. Viel Zeit, die er in Jenin und anderen Regionen verbracht hat. Den Aufbau des Kinos hat er dokumentarisch mit der Kamera begleitet. »Cinema Jenin« wird gerade geschnitten, soll im Herbst dieses Jahres in die Kinos kommen und ein Bild einer palästinensischen Gesellschaft in einer Kleinstadt unter fremder Besatzung, mit all ihren Schatten- aber auch schönen Seiten zeigen. »Es gibt Menschen, für die es sich einzusetzen lohnt«, sagt der Tübinger. »Dieses Projekt darf nicht sterben!«

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